Die unglaubliche Reise der Pflanzen

von: Stefano Mancuso

Klett-Cotta, 2020

ISBN: 9783608115925 , 154 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 10,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die unglaubliche Reise der Pflanzen


 

Pioniere, Kämpfer und Heimkehrer


01

Art: Echte Trauerweide • Domäne: Eukaryoten • Reich: Pflanzen (Plantae) • Abteilung: Gefäßpflanzen (Tracheophyta) • Unterabteilung: Samenpflanzen (Spermatophyta) • Klasse: Bedecktsamer (Magnoliopsida) • Ordnung: Malpighienartige (Malpighiales) • Familie: Weidengewächse (Salicaceae) • Gattung: Weiden (Salix) • Wissenschaftlicher Name: Salix babylonica • Herkunft: China • Verbreitung: weltweit

Erstes Auftreten in Europa: Um 1700

Der Begriff »Pionier« lässt mich unweigerlich an den Wilden Westen und an die Abenteuergeschichten während der Eroberung des amerikanischen Westens denken. Kaum spricht jemand das Wort »Pionier« aus – schon scheint in meinem Gedächtnis ein Schalter umgelegt: Vor meinem inneren Auge entstehen die Gesichter von Gregory Peck, John Wayne, James Stewart, Eli Wallach, Richard Widmark, Lee Van Cleef, Henry Fonda, Debbie Reynolds und natürlich Karl Malden mit seiner riesigen Nase in »Das war der Wilde Westen«. Und so geht es bestimmt nicht nur mir. Ich bin sicher, die meisten Menschen verbinden mit dem Begriff »Pionier« Westernfilme oder Romane wie die von Emilio Salgari[1]. Einige wenige werden vielleicht auch jene militärischen Spezialeinheiten vor Augen haben, die der kämpfenden Truppe schon seit der Antike buchstäblich den Weg bereiten. Doch, seien wir ehrlich: So gut wie niemand denkt dabei an Pflanzen.

Und das ist eine große Ungerechtigkeit, denn Pflanzen müssten eigentlich das Erste sein, was einem in den Sinn kommt, wenn von Pionieren die Rede ist, und nicht Westernstars aus Hollywood oder das Militär. Denn ohne den Helden unserer Jugend zu nahe treten zu wollen, was ihre Besiedlungsfähigkeiten betrifft, macht den Pflanzen kein anderer Organismus etwas vor. Und das gilt erst recht für ihre Bedeutung als Wegbereiter für nachfolgende Besiedlungen durch andere Lebewesen – in dieser Hinsicht sind Pflanzen die Pioniere schlechthin. Es gibt kein irdisches Umfeld, in dem Gewächse (gemeint sind sämtliche Organismen mit der Fähigkeit zur Photosynthese) nicht Wurzeln schlagen könnten. Von den eisigen Polarregionen bis zu den heißesten Wüsten, von den Tiefen der Ozeane bis hinauf zu den Gipfeln der Berge haben Pflanzen alles erobert – und tun es weiterhin, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.

Manch einer fragt sich vermutlich, wie es den Pflanzen gelingt, jedwedes Gelände zu bedecken und neue Gebiete zu erschließen oder diese – häufiger noch – langsam, aber unaufhaltsam für die Natur zurückzuerobern. Vor Jahren wurde unweit meines Labors am naturwissenschaftlichen Zentrum der Universität Florenz im Rahmen einer Restrukturierung unserer Streitkräfte ein ehemaliges Armeelager aufgelöst, das von einem Tag auf den anderen sich selbst überlassen blieb. Wegen der Nähe zu meinem Arbeitsplatz konnte ich die Inbesitznahme des verlassenen Areals durch die Pflanzen über viele Jahre hinweg genauestens beobachten. Gleichzeitig machte ich mir Gedanken darüber, wie sich das Kasernengelände für die Untersuchung und Erprobung innovativer Methoden im Rahmen der städtischen Landwirtschaft nutzen ließe. Während ich noch hoffte, ein Versuchsgelände daraus machen zu können, verfolgte ich (beinahe bedauernd), mit welcher Geschwindigkeit und Effizienz die Pflanzen ihre Rückeroberungsstrategien umsetzten. Zwei Jahre nach Aufgabe der Kaserne war die Umfassungsmauer von über 20 verschiedenen Arten bedeckt, darunter der Echte Kapernstrauch (Capparis spinosa), das Große Löwenmaul (Antirrhinum majus), das Mauer-Glaskraut (Parietaria judaica) und verschiedene Farne wie die Mauerraute (Asplenium ruta-muraria)[2]. Kurz gesagt, es war ein kleiner vertikaler botanischer Garten entstanden, der viele Geschichten zu erzählen hatte.

Gleichzeitig siedelten sich zwischen Mauer und Straße zahlreiche Bäume an. Schon in den ersten Monaten bemerkte ich überall Sprösslinge von Götterbäumen (Ailanthus altissima) und Blauglockenbäumen (Paulownia tomentosa), die rasch wuchsen und dabei Teile der Umfassungsmauer einrissen. Die Blauglockenbäume stammen sicherlich von den Samen jenes Exemplars ab, das ich selbst vor Jahren bei meinem Labor gepflanzt habe und an dem ich sehr hänge. Eine Feige (Ficus carica) keimte in einem Riss im Asphalt und hat sich zu einem prächtigen Baum entwickelt. Er verdeckt inzwischen einen aus dem Mauerwerk hervortretenden Wachtturm. Später kamen die Acker-Winde (Convolvulus arvensis) und die Große Klette (Arctium lappa) hinzu, um ihren Platz zu beanspruchen – Letztere ein Anhafter, mit dem wir uns an anderer Stelle noch eingehender befassen werden. Heute, 15 Jahre nach der Aufgabe des Militärlagers, gelingt es nur noch wenigen Strukturen, den Angriffen der Pflanzen zu widerstehen, darunter ein Gebäude aus Stahlbeton, ein Platz und ein riesiger Metalltank, der jedoch bereits erste Anzeichen seiner bevorstehenden Kapitulation erkennen lässt. In kurzer Zeit konnten die Pflanzen ein scheinbar für das Leben ungeeignetes Areal zurückerobern. Das ist zweifellos ein bemerkenswerter Erfolg und doch nichts im Vergleich zu den gewaltigen Eroberungen, die Pflanzen andernorts gelungen sind.

01_a.
Die Pioniere von Surtsey


Anfang November 1963 kam es etwa einhundert Kilometer südlich von Island in 130 Metern Tiefe auf dem Meeresboden zu vulkanischer Aktivität, in deren Verlauf große Mengen Magma freigesetzt wurden. Der vorherrschende Wasserdruck schwächte die explosiven Ausbrüche zunächst ab, doch im Laufe der Zeit wuchs der Vulkankegel immer weiter an, sodass die Eruptionen schließlich die Wasseroberfläche durchstießen. Schon vom 6. bis 8. November hatten Seismografen in Kirkjubæjarklaustur, einer Gemeinde im Süden Islands, eine Reihe kleinerer Beben registriert, deren Epizentrum im Meer etwa 140 Kilometer südöstlich von Reykjavík lag. Am 12. November nahmen die Bewohner der Küstenstadt Vík í Mýrdal den ganzen Tag über einen starken Schwefelwasserstoffgeruch wahr. Und am 13. November maß ein gut ausgerüsteter Fischkutter auf der Suche nach Hering in der Nähe des Unterwasserausbruchs eine um 2,4 Grad erhöhte Meerestemperatur.

Am 14. November um 7:15 Uhr schließlich bemerkte die Besatzung des Kutters Ísleifur II, der in denselben Gewässern unterwegs war, mitten auf dem Meer eine Rauchsäule und fuhr in der Annahme darauf zu, ein anderes Schiff sei in Seenot geraten. Stattdessen wurden die Männer jedoch die ersten Augenzeugen der Eruptionen[3]. Gegen 11:00 Uhr desselben Tages war die Rauch- und Aschesäule bereits mehrere Kilometer hoch und das eruptive Material trat aus separaten Kratern aus, die bis zum Nachmittag zu einer einzigen Spalte verschmolzen. Wenige Tage später besaß das Vestmannaeyjar-Archipel bei 63,303 Grad Nord und 20,605 Grad West eine neue, über 500 Meter lange und 45 Meter hohe Insel[4]. Sie wurde Surtsey, isländisch für Insel des Surt genannt – nach jenem Feuerriesen der nordischen Mythologie also, der eines Tages mit seinem Flammenschwert den Weltenbrand auslösen soll. Die Eruptionen dauerten bis zum 5. Juni 1967 an. Zu diesem Zeitpunkt erreichte die Insel ihre größte Ausdehnung von etwa 2,7 Quadratkilometern. Seither hat sich ihre Oberfläche durch das Einwirken des Meeres kontinuierlich verringert, sodass sie im Jahr 2012 nur noch etwa 1,3 Quadratkilometer umfasste.

Surtseys Schicksal scheint besiegelt, denn die Erosionskräfte sorgen dafür, dass die Insel in rund hundert Jahren wohl schon wieder verschwunden sein wird – ein kurzes Leben für eine Insel, aber lang genug, um für immer in die Wissenschaftsgeschichte einzugehen. Dank dieses seltenen natürlichen Laboratoriums konnte erstmals mit den Methoden und Werkzeugen der modernen Forschung auf vergleichsweise kleinem Raum detailliert untersucht werden, wie auf einem sterilen Untergrund ein vollständiges Ökosystem entsteht. Als die Lava die Wasseroberfläche durchbrach und deutlich wurde, dass es sich, anders als in vorherigen Fällen, nicht um ein flüchtiges Phänomen handelte[5], erkannte die wissenschaftliche Gemeinschaft die einmalige Gelegenheit, die sich hier bot. Man beschloss, genauestens zu verfolgen, wie sich das Leben auf der entstehenden Insel festsetzen und entwickeln würde. Bereits 1965, als die Eruptionen noch in vollem Gange waren, wurde Surtsey daher zum...