Die List (Wissen & Leben) - Mythen und Psychologie

von: Andreas Marneros

Schattauer, 2020

ISBN: 9783608115949 , 366 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 24,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Die List (Wissen & Leben) - Mythen und Psychologie


 

1 Auf den Spuren des listreichen Odysseus und des »listigen Jesus«


»Wer lehret mich? was soll ich meiden?

Soll ich gehorchen jenem Drang?«

J. W. v. Goethe »Faust. Die Tragödie« (V. 630 – 631)

Achilles’ Entkleidung, des Schlangenbisses Heilung und des Teufels Überlistung durch listige Engel


Es gibt kluge List, die Probleme löst, und es gibt kluge List, die Probleme schafft.

Apollodor in seiner »Bibliotheke« (III, 171) andere Mythographen (etwa die, die im W. H. Roschers »Ausführliches Wörterbuch der griechischen und römischen Mythologie« zitiert sind) erzählen uns folgende Anekdote über eine kluge, problemlösende List:

Eine Prophezeiung sagte voraus, dass die Griechen Troja ohne die Mitwirkung von Achilles nicht erobern könnten. Doch wenn Achilles in Troja kämpfe und Ruhm erlange, werde er nicht lebend nach Griechenland zurückkehren. Das wollten seine Eltern verständlicherweise unter allen Umständen vermeiden. Sie nahmen deshalb den Jungen aus der Obhut Chirons – des weisen Kentauros, bei dem er zur Erziehung und Ausbildung war –, verkleideten ihn als Mädchen und versteckten ihn im Palast des Königs Lykomedes von Skyros, wo er unter dem weiblichen Namen Pyrrha mit den Töchtern des Königs zusammen aufwuchs. Die Griechen wussten jedoch: Ohne den göttlichen Achilles war der Krieg nicht zu gewinnen. Wo aber war er? Mittlerweile musste er erwachsen sein (und wie später zu erfahren war, hatte er sogar in seinem Versteck eine der Königstöchter geheiratet und mit ihr den Sohn Neoptolemos bekommen, dem wir bald als Akteur einer anderen List begegnen werden).

Doch schon vor Beginn des Feldzuges gegen Troja gelang es dem listreichen Odysseus, Achilles zu finden und ihn mit einer List zu entlarven.

Odysseus kam als Händler in den Palast von Skyros und ließ eine Menge Geschenke, alles Frauenkram, in der Halle ausbreiten. Etwas abseits stellte er ein Schwert und einen Kriegsschild zur Schau; manche Augenzeugen sagen, dass er dazu in eine Kriegstrompete blies. Sofort warf eine der Frauen ihre Kleider ab, und damit wurde der nackte Körper eines schönen, kräftigen jungen Mannes sichtbar. Der entkleidete Starke und Schöne griff begierig und mit leuchtenden Augen nach den Waffen – er war, wie man leicht erraten kann, Achilles.

Mit einer List war das Problem gelöst – die Griechen jubelten, die Trojaner zitterten. Und Achilles fiel tatsächlich ruhmreich im zehnten und letzten Kriegsjahr.

Sophokles dagegen beschreibt in seiner Tragödie »Philoktetes« die folgende problemschaffende und eine moralische Konfliktsituation erzeugende List:

Philoktetes, einer der griechischen Heeresoffiziere des trojanischen Feldzuges, wird von einer Schlange in den Fuß gebissen. Die Wunde entzündet sich und bereitet ihm unendliche Schmerzen. Er kann sein Bein nicht mehr bewegen, und die Wunde riecht fürchterlich. Seine Schreie und sein qualvolles Stöhnen demoralisieren das Heer. Infolgedessen trifft die Heeresführung die Entscheidung, Philoktetes mit seinen Waffen auf Lemnos, das im Drama des Sophokles als menschenleer dargestellt wird, in einer geschützten Höhle mit einer Quelle abzusetzen. Philoktetes hegt großen Groll und Hass gegen die Heeresführung, die ihn so behandelt hat. Aber er hat eine Trumpfkarte in der Hand. Er besitzt nämlich eine Geheimwaffe: Sein Bogengeschoss ist ein Geschenk von Herakles und hat übernatürliche Eigenschaften, was die anderen Heeresführer offensichtlich nicht wissen. Und sie wissen auch etwas anderes Entscheidendes nicht – sie werden es erst fast zehn Jahre später erfahren.

Helenos, ein trojanischer Seher, hat den Griechen das Geheimnis verraten: Ohne Philoktetes’ heraklische Waffe ist es unmöglich, Troja zu erobern. Das Heer beschließt darauf, eine Mannschaft nach Lemnos zu schicken, bestehend aus dem klugen Odysseus, dem tapferen Neoptolemos, dem Sohn des inzwischen gefallenen Achilles, und einem Späher, um an die Wunderwaffe des Philoktetes zu kommen. Auf Lemnos angekommen, offenbart Odysseus dem tugendhaften Neoptolemos seinen listigen Plan. Er selbst, Odysseus, kann nicht in Philoktetes’ Nähe kommen, weil er einer derjenigen war, die dessen Absetzen auf der damals unbewohnten Insel initiiert haben und deswegen von ihm gehasst werden. Neoptolemos muss den Plan allein ausführen. Odysseus’ List sieht so aus: Neoptolemos muss Philoktetes anlügen, dass er im Zorn den Feldzug verlassen hat und bei den Griechen deshalb in Ungnade gefallen ist. Und dass er seinerseits die Heeresführung dafür hasst. Damit soll ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Heereshassern entstehen, um der Entwendung der Wunderwaffe den Boden zu bereiten.

Neoptolemos gerät in einen Konflikt.

Er will ehrlich und offen und tugendhaft sein; was das Heer jedoch von ihm verlangt, ist nach seinen Vorstellungen nicht tugendhaft. Odysseus’ List riecht für ihn schlimmer als Philoktetes’ Wunde. Odysseus kann Neoptolemos jedoch überzeugen, dass seine Pflicht gegenüber dem Vaterland höher steht als eine einmalige und vorübergehende Verletzung dessen, was man landläufig Tugendhaftigkeit nennt. Nach vielem Hin und Her entscheidet sich Neoptolemos schweren Herzens, die von Odysseus erdachte List anzuwenden. Während der Ausführung jedoch überkommen ihn wieder Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns.

Die List bringt für ihn eine Prüfungssituation mit sich.

Wie auch immer, Neoptolemos kann das Vertrauen des kranken Philoktetes gewinnen, sodass dieser ihm die begehrte Waffe des Herakles aushändigt. Philoktetes will damit Neoptolemos dessen vorgetäuschten Wunsch erfüllen, die sagenumwobene Waffe berühren und küssen zu dürfen. Währenddessen aber wird Philoktetes plötzlich bewusstlos. Da steht nun Neoptolemos, mit der begehrten Waffe in der Hand, die den Krieg beenden und seinen Landsleuten den Sieg und ihm selbst nebenbei großen Ruhm bringen kann. Vor ihm liegt Philoktetes, der ein Hindernis für den Sieg und das Ende des Krieges ist. Doch der ist bewusstlos und machtlos.

Die List bringt Neoptolemos in eine Kampfsituation, in der Moral gegen Moral kämpft. (Diese Konfliktsituation zwischen Moral und Moral wird in einer – naja: fiktiven – Diskussion zwischen Aristoteles und Sophokles dargestellt in Marneros 2013.)

In dieser Konfliktsituation zwischen moralischem Handeln dem Einzelnen gegenüber und höherer verpflichtender Moral gegenüber seinem Vaterland entscheidet Neoptolemos zuerst zugunsten des Individuums. Er will Philoktetes seine Waffe zurückgeben, sobald dieser wieder bei Sinnen ist, die List offenbaren und ihm die Wahrheit sagen. Das erzürnt den hinzugekommenen Odysseus, der starken Druck auf Neoptolemos ausübt und sogar bereit zu sein scheint, physische Gewalt gegen ihn anzuwenden. Die Lage wird gefährlich für Neoptolemos. Der bleibt standhaft, ist aber weiter in der Konfliktsituation und in der gefährlichen Lage, in die die List ihn gebracht hat.

Übrigens wird der Konflikt des Neoptolemos schließlich durch Herakles’ Intervention aufgelöst. Er kommt als der »Apó Mechanés Theós« (einige Jahrhunderte später latinisiert in »Deus ex machina«) hinzu und stellt sowohl die individuelle als auch die überindividuelle Moral wieder her. Er schenkt Philoktetes die vollständige Genesung und damit die Wiederaufnahme in die Führung des griechischen Heeres. Und so bringt Philoktetes selbst die Wunderwaffe nach Troja und trägt damit entscheidend zum Sieg der Griechen bei.

Die listogene Konfliktsituation wurde erst mit göttlicher Hilfe aufgelöst.

Das waren zwei listige Geschichten aus dem Umfeld des Trojanischen Krieges, der übrigens mit einer List beginnt und mit einer List beendet wird, worüber wir später sprechen werden. Zwei Geschichten, die uns zwei der vielen Gesichter der List zeigen. Aber auch manche psychologischen Mechanismen, Hintergründe und Folgen – Intelligenz, planendes Denken, Kreativität, Perspektivität, Intentionalität, Emotionalität und Konfliktsituationen –, die hinter oder um die List herum stehen, werden in diesen beiden Geschichten schon sichtbar.

Doch wie stehen alle diese Aspekte zueinander?

Und warum erzählen die...