Vom Glück des Loslassens - Wie Herz und Leben leicht werden

von: Kerstin Wendel, Ulrich Wendel

SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag, 2020

ISBN: 9783417229608 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Vom Glück des Loslassens - Wie Herz und Leben leicht werden


 

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2. LOSLASSER SIND KEINE VERLIERER: WARUM LOSLASSEN SO ENTSCHEIDEND IST


»Ich hab gleich wieder Kraft! Ich kann dann weiterspielen! Muss noch nicht schlafen!« So der Ausruf des Dreijährigen einer befreundeten Familie. Der Vater berichtet von den abendlichen Schlafengehen-Szenen, die sich manchmal über Stunden hinziehen. Der Kleine will einfach noch weitermachen mit dem Tag. Und diskutiert endlos.

Tja, wir kennen den Vater gut, er ist beredsam und eloquent … Da hat er seinem Sohn wohl etwas mitgegeben!

Wenig später ertappe ich (Uli) mich spätabends. Es war ein normaler Arbeitstag, die Stunden im Beruf waren vollgestopft mit Aufgaben, Telefonaten, Terminen. Abends habe ich noch ein paar Dinge für den Haushalt erledigt, Kerstin und ich haben ein wenig Zeit miteinander verbracht, und als es auf 22 Uhr zugeht, bin ich total unzufrieden.

Gern hätte ich noch mehr Zeit für mich selbst gehabt, noch ein wenig gelesen, Musik gehört, ein wenig meinen Gedanken nachgehangen – doch es wäre unvernünftig, weiter aufzubleiben und am Nachtschlaf zu sparen. Verabschieden will ich den Tag aber auch noch nicht. Ich mag nicht loslassen, ich will noch etwas vom Abend haben.

Und plötzlich merke ich: »Ich will noch nicht ins Bett!« ist nicht nur der Ausruf von Dreijährigen, sondern auch eine Regung von Erwachsenen. Das ganze Leben ist durchzogen von Momenten, in denen wir loslassen müssen.

Wir kennen ein Ehepaar, für die der Sommerurlaub einen sehr hohen Stellenwert hat. Und geht er dem Ende entgegen, hat jeder von ihnen seinen eigenen Weg, Abschied zu nehmen. Er sagt meist am vorletzten oder letzten Tag: »So, das war ein schöner Urlaub.«

Sie entgegnet dann sofort: »War? Ist doch noch schön. Wir sind doch noch nicht losgefahren.« Sie will alles bis zur letzten Sekunde auskosten und keinen Moment eher loslassen.

Er dagegen hat den Zeitpunkt selbst gewählt, an dem er sich von der schönen Zeit verabschiedet. Er ist bereit loszulassen, hat das Ende ein Stück selbst bestimmt. Sie hält fest, bis es nicht länger geht, und lässt sich den Schlussstrich vom Kalender ziehen.

Zwei Arten, Abschied zu nehmen: eine versöhnliche und eine gezwungene.

Loslassen als Alltagsübung. Mal leichter, mal schwerer. Für uns Wendels ist der Sommer die Lieblingsjahreszeit, und wird es Anfang September, versuchen wir scherzhaft, das Wort »Herbst« bloß noch nicht in den Mund zu nehmen. Wir reden vom »einsetzenden Spätsommer« oder vom »fortgeschrittenen mittleren Spätsommer« und wissen dabei natürlich, dass wir uns etwas vormachen. Der Herbst wird kommen.

Egal, ob Alltag oder Urlaub – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene ist es wichtig, sich im Loslassen zu trainieren. Mal fällt es uns allen leichter, meistens aber eher schwer, wenn wir ehrlich sind. Vielleicht wirken gerade deshalb die radikalen Jesus-Gedanken, die gleich vorgestellt werden, kräftig herausfordernd?

Ein Grundmuster des Christseins


Niemand kommt darum herum, immer wieder etwas loszulassen. Meist geht die Welt dabei nicht unter – der Herbst ist keine Katastrophe, und abends das spannende Kapitel ungelesen zu lassen und stattdessen schlafen zu gehen, auch nicht.

Andere Herausforderungen gehen mehr ans Eingemachte: Wer merkt, dass er keine langen Strecken mehr mit dem Auto fahren kann, oder wer im Alter spürbar vergesslicher wird, der muss das erst mal unter die Füße kriegen.

Doch es gibt eine noch tiefere Dimension des Loslassens:

Loslassen ist das Grundmuster des Christseins. Ja, es ist geradezu die Definition für einen Christen: jemand, der sich selbst vollkommen losgelassen hat.

Jesus hat uns diese Definition gegeben. »›Wenn jemand mir nachfolgen will‹, sagte er, ›muss er sich selbst verleugnen, sein Kreuz auf sich nehmen und mir nachfolgen. Denn wer versucht, sein Leben zu bewahren, wird es verlieren. Wer aber sein Leben um meinetwillen und um der guten Botschaft willen verliert, wird es retten. Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine Seele verliert?‹« (Markus 8,34-36).

Das macht also einen Nachfolger von Jesus aus: Es ist ein Mensch, der einmal komplett an den Nullpunkt gekommen ist. Jemand, der alles aus der Hand gegeben hat. Der sich vollkommen an Christus verloren hat. Und der seitdem sein Leben nur deshalb hat und führen kann, weil Christus es ihm Stück für Stück wiedergibt.

Jeder Versuch, einen Sektor des Lebens noch unter der eigenen Kontrolle zu behalten, würde zum Totalverlust führen.

Dabei ist klar: Jesus hat nicht nur von Märtyrern gesprochen, nicht nur von den Christen damals, die für ihr Bekenntnis gesteinigt oder gekreuzigt oder in einer römischen Zirkusarena den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden.

Nein, »sein Kreuz auf sich nehmen«, das zeigt sich vielfältig. Wir werden das noch vertiefen. Jesus hat ja zu einer großen Volksmenge gesprochen. Und jeder von seinen Zuhörern musste auf irgendeine Weise sein eigenes Leben drangeben, wenn er ihm folgen wollte.

Und noch etwas muss man sich klarmachen: »Sich selbst verleugnen« bedeutet nicht, geringschätzig von sich zu denken. Sich zu entwerten oder sich von anderen entwürdigen zu lassen.

Jesus meinte auch nicht den Verzicht darauf, ein starkes Ich im Sinne der Persönlichkeitsreifung zu entwickeln. Der Bibelausleger Adolf Pohl gibt das, was Jesus meint, mit folgendem Ausdruck wieder: »sich selbst eine Absage erteilen«. Er betont dabei, dass »diese Absage an Selbstdurchsetzung nicht Selbstauslöschung meint«. »Der Jünger hat sich nicht zum Verschwinden zu bringen, sondern zum Dienen. Gott ist ihm durch Jesus so nahe gerückt, dass er sich selbst ferngerückt ist«.1

Diese Definition für einen Christen ist sehr schroff. Sie ist auch ungewöhnlich. Vielleicht sogar eine Zumutung?

Unter einem Christen verstehen wir doch eigentlich jemanden, der eine starke innere Überzeugung hat, nämlich dass es Gott gibt und dass Jesus der Weg zu Gott ist.

Manche würden vielleicht sagen: Christen sind die, die bestimmte Werte vertreten, zum Beispiel Nächstenliebe oder Dienstbereitschaft. Oder sie sehen in Christen Menschen mit einer bestimmten Weltanschauung. Oder solche, die sich Jesus zum Vorbild genommen haben.

All das sind ja auch Konsequenzen des Christseins. Der Kern aber ist ein anderer, nämlich: sich selbst losgelassen und an Jesus verloren zu haben.

Christen – die entspanntesten Menschen überhaupt?


Eigentlich müssten Christen also Experten in Sachen Loslassen sein. Sie haben es doch so grundlegend erlebt!

Wer einmal völlig an die Nulllinie gekommen ist und sich komplett auf Gott verlassen hat, für den wäre es doch ein Leichtes, anschließend auch hier und da mal zurückzustecken. Der könnte doch locker mal darauf verzichten, ums Rechthaben zu kämpfen. Dem sollte es doch gelingen, Fehler nicht endlos nachzutragen.

Der könnte Geld lockermachen, um jemanden zu unterstützen, der das braucht. Dem bräche kein Zacken aus der Krone, wenn der Ehepartner oder der Kollege mal erfolgreicher sind als er selbst und mit ihren Ergebnissen glänzen können. Der käme damit zurecht, wenn er nicht bei jeder Party mitmachen kann, weil die Gesundheit das nicht hergibt. Der müsste auch nicht kleinlich jede erlittene Undankbarkeit verbuchen.

Diese Verluste wären ja ein Klacks gegen den großen Komplettverlust, in den man eingewilligt hat: sich selbst eine Absage zu erteilen, sein Leben zu verlieren. Wer nach dieser Erfahrung sowieso nichts mehr zu verlieren hat, wer sein Leben nur deshalb gewonnen hat, weil er es von Gott zurückbekam – der müsste doch der entspannteste Mensch auf dem Globus sein.

Aber klar: So sind Christen oft nicht. Manchmal sind sie rechthaberischer als alle anderen Menschen. Und viele Menschen spüren, dass Loslassen oft ein Kampf ist. Wir merken daran deutlich:

Diese schroffe Jesus-Definition des Christseins ist nicht nur eine Zumutung für Menschen, die sich für den Glauben interessieren und Christen werden wollen. Sondern sie fordert auch Christen heraus, die Jesus schon lange nachfolgen. Wir müssen hier immer wieder neu einwilligen.

Doch es führt kein Weg daran vorbei: Ohne dass man sich selbst verliert, kann man kein Christ sein. Jesus hat das oft genug unterstrichen. Es war ihm so wichtig, dass er es zu vielen Gelegenheiten gesagt und mit verschiedenen Bildern veranschaulicht hat. Zum Beispiel im Bild vom Weizenkorn:

»Ich versichere euch: Ein Weizenkorn muss in die Erde ausgesät werden. Wenn es dort nicht stirbt, wird es allein bleiben – ein einzelnes Samenkorn. Sein Tod aber wird viele neue Samenkörner hervorbringen – eine reiche Ernte neuen Lebens.«

Und was folgt daraus? Jesus setzt den Gedanken unmittelbar fort: »Wer sein Leben in dieser Welt liebt, wird es verlieren. Wer sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es zum ewigen Leben bewahren« (Johannes 12,24-25).

Oder er gebraucht das Gleichnis vom Kaufmann:

»Das Himmelreich ist auch vergleichbar mit einem Perlenhändler, der nach kostbaren Perlen Ausschau hielt. Als er eine Perle von großem Wert entdeckte, verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte die Perle!« (Matthäus 13,45-46).

Auch dieser Kaufmann bekam das, was sein Leben unschätzbar bereichern würde, nicht billiger: Er musste alles andere loswerden.

In diesen Bildworten hat Jesus zweierlei gesagt: Er hat klar benannt, was das Christsein kostet. Aber auch, wie groß der Gewinn ist. Am Ende steht keiner als Verlierer da. Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus haben ein...