Wäre schön blöd, nicht an Wunder zu glauben - Die Geschichte einer Frau, die mehrfach schwer erkrankte und trotzdem die Hoffnung nie aufgab.

von: Simone Heintze

Gerth Medien, 2020

ISBN: 9783961224173 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Wäre schön blöd, nicht an Wunder zu glauben - Die Geschichte einer Frau, die mehrfach schwer erkrankte und trotzdem die Hoffnung nie aufgab.


 

Mai 2017

Nachrichten auf dem Erdbeerfeld

„Kannst du den Schlauch nehmen und am oberen Feld gießen?“, ruft meine Mutter mir zu, während sie gleichzeitig im Regenbottich eine Gießkanne füllt.

Ihre Erdbeerpflanzen, die in ein paar Wochen leckere süße Früchte tragen sollen, lassen schlapp ihr grünes Gefieder hängen. Es ist viel zu trocken in diesem Frühjahr und die Erdbeeren werden noch vor der Reife verschrumpeln, wenn sie jetzt kein Wasser bekommen. Also stehen wir in der Abendsonne auf unserem Erdbeerfeld und gießen. Um uns herum Wiesen und Wälder und in Sichtweite der Pferdestall meines Bruders Markus.

Es tut mir gut, hier zu stehen und die Pflänzchen zu neuem Leben zu erwecken. Wenn das mit dem Zum-Leben-erwecken doch immer so einfach wäre.

Meine Mutter spaziert an mir vorbei, um die nächsten Gießkannen zu füllen. Ich fühle mich ein bisschen schuldig, weil ich nur den Schlauch halte und sie die schweren Kannen schleppen lasse. Aber meine Mama ist da eisern. Vor vier Jahren hatte ich Brustkrebs und musste mir infolge dieser Erkrankung die Brüste abnehmen und gegen Implantate austauschen lassen. Ich komme sehr gut damit zurecht, darf aber nicht zu schwer heben. Und unter zu schwer fallen für meine Mutter auf jeden Fall auch volle Gießkannen.

Ich akzeptiere schweigend, dass ich keine Kanne tragen darf, spiele weiterhin den Erdbeersprenger und genieße die Abendruhe hier im Stuttgarter Hinterland, wo ich aufgewachsen bin. So viel Ruhe habe ich sonst nicht um mich herum. Seit fast 20 Jahren lebe ich in Nordrhein-Westfalen. Dort habe ich geheiratet, drei wunderbare Kinder bekommen und mich leider vor drei Jahren von meinem Mann getrennt. Die Scheidung läuft.

Die Trennung hat mich viele Tränen und viel Kraft gekostet, doch so langsam zeichnet sich ein Ende ab. Die Notarverträge sind aufgesetzt und werden momentan von unseren Anwälten geprüft. Ich wünsche mir, dieses Kapitel so schnell wie möglich abschließen zu können. Scheiden tut einfach verdammt weh. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Meine Rettung sind die Ruhetage, die ich hier in meiner alten Heimat erleben darf. Hier mache ich lange Spaziergänge und verbringe gemütliche Abende mit meinen Brüdern und mit meiner Mutter. Noch vor ein paar Jahren hätte ich nie gedacht, dass mir diese Ruhe mal so fehlen würde. Deshalb liebäugele ich auch tatsächlich damit, wieder in meine Heimat zurückzuziehen. Ich habe tolle Freunde und eine wunderbare Gemeinde in Nordrhein-Westfalen, aber jetzt gerade, wo ich hier so auf dem Erdbeeracker stehe, möchte ich für immer hierbleiben. Ich möchte den Pflanzen beim Wachsen zusehen, rote Erdbeeren pflücken und vor mich hinträumen.

In diesem Moment merke ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllen und der Schleier auf meinen Augen mit dem Regenschleier des Rasensprengers verschwimmt. Ich weiß, dass diese Tränen sich nicht mehr zurückdrängen lassen. Meine Idylle ist hin.

Denn eigentlich wäre ich jetzt gar nicht hier, sondern in Berlin auf dem Evangelischen Kirchentag. Wir haben 2017 und in ganz Deutschland wird der 500. Geburtstag der Reformation gefeiert. Einer der Höhepunkte dieses Jubiläumsjahres ist der Kirchentag in Berlin und Wittenberg. So lange habe ich mich darauf gefreut, mir genau ausgesucht, in welche Vorträge und zu welchen Veranstaltungen ich gehen wollte. Der Plan war super gewesen. Zwischendurch, so hatte ich mir ausgemalt, würde ich irgendwo in der Sonne sitzen, Eis lutschen und die vielen Vorträge nachwirken lassen. Ich würde tiefe Glaubensgespräche führen, neue Menschen kennenlernen und mich aufnehmen lassen in die Freude meines Glaubens. Später wollte ich dann zu meinem kleinen „Gartenhäuschen“ in Hohen Neuendorf rausfahren, mit einem Glas Wein auf der Terrasse sitzen und der Sonne beim Untergehen zugucken.

Doch stattdessen stehe ich nun hier in meiner schwäbischen Heimat auf dem Erdbeerfeld und kann nicht fassen, was in den letzten Tagen passiert ist. Mein Vater, mein heißgeliebter Papa, ist gestorben. Vor ein paar Tagen ist er einfach umgekippt und wegen einer Hirnschwellung ins Koma gefallen. Jetzt ist er tot. Einfach so. Ich kann es nicht begreifen.

So sehr hatte ich gebetet, dass mein Vater überlebt und viele meiner Freunde haben mit mir gebetet. Ich war mir so sicher, dass Gott ein großartiges Wunder geschehen lässt. Aber von Wunder keine Spur. Statt eines Wunders kam die Trauer und diese erdrückt mich nun. Da war so viel, was mein Vater und ich noch zusammen machen wollten, zum Beispiel in Berlin meine Senioren-WG bauen. Mein Papa hatte mir versprochen, mich dabei zu unterstützen und er hat sich darauf genauso gefreut wie ich.

Zwei Tage nach dem Tod meines Vaters trennt sich auch noch mein Freund von mir. Ich gebe zu, wir hatten schon länger Probleme und eine richtige Lösung war nicht in Sicht. Unsere Ansichten waren in vielen Dingen zu unterschiedlich, und trotzdem habe ich ihn noch immer geliebt und mir gewünscht, dass wir mit etwas mehr Zeit Kompromisse finden würden. Leider sah er es anders.

Jetzt stehe ich hier auf unserem Erdbeerfeld, die Tränen laufen mit dem Wasser aus dem Schlauch um die Wette und ich weiß gar nicht mehr, worüber ich in diesem Moment mehr weine – über den Tod meines Papas oder das Schlussmachen meines Freundes. Ich brauche eine Schulter zum Anlehnen.

Das Ganze ist für mich wie ein Déjà-vu, denn auch meine Ehe ist genau zu dem Zeitpunkt kaputtgegangen, als die Umstände wegen meiner Krankheit schwierig wurden. Und nun stirbt mein Vater und mein Freund macht Schluss.

Ich will diese Frage ein für alle Mal aus meinem Kopf bekommen. Nie mehr will ich mir die Frage stellen müssen, was in meinem Leben denn überhaupt jemals Bestand hat. Ich will mich verkriechen, mich vor der Welt und meinem eigenen Leben verstecken und nie wieder hervorkommen. Aber das geht nicht, denn die Beerdigung muss organisiert werden. Höhle spielen funktioniert jetzt nicht, stattdessen muss der Autopilot übernehmen und ich muss mir bewusst machen, dass ich nicht allein bin, sondern eine Familie habe. Ich habe meine drei Kinder, meine Mutter, meine Brüder … Das sind Menschen, die mir zuhören, die mich trösten und die mit mir organisieren. Ich habe viel mehr als so viele andere.

In dieser Erkenntnis versickern meine Tränen allmählich und ich finde die Abendsonne gerade wieder ein winziges Bisschen schön, als plötzlich mein Handy klingelt. Wer ruft mich denn jetzt mitten auf dem Erdbeerfeld an? Anonyme Nummer. Ich überlege für einen kurzen Moment, den Anruf gar nicht anzunehmen, doch meine Neugier siegt und ich drücke den grünen Knopf.

„Hier ist Dr. Abdallah von der Senologischen Ambulanz Gelsenkirchen …“

Der Anruf! Den hatte ich vollkommen vergessen. Dr. Abdallah wollte mir das Ergebnis der Biopsie von letzter Woche mitteilen. Eigentlich gibt er solche Informationen nicht am Telefon weiter, doch wir hatten das vorab so vereinbart, dass er persönlich bei mir anrufen würde. Das war mir sehr recht. Ich gieße also einhändig weiter, während ich mir noch einmal sage, was ich mir in den letzten Tagen in Zeiten der Angst immer wieder gesagt hatte: Das Ergebnis würde ohne Befund ausfallen. Ich hörte nicht mehr richtig zu.

„… ein Rezidiv.“

Was hat er da gesagt? Ich schaue ungläubig auf das Telefon in meiner Hand. Ein Rezidiv? Das kann nicht sein. Alle haben doch gesagt, wie unwahrscheinlich das ist. Es würde mit Sicherheit nur eine Fibrose sein, lästiges Fettgewebe. Niemals ein Rezidiv. Es ist ein Rezidiv?

Die Nachricht lässt mich taumeln, hier auf dem blöden Erdbeerfeld ist nichts, woran ich mich festhalten könnte. Nicht mal Gott. Hast du das gehört, Gott? Rezidiv! Was sagst du dazu? Gott schweigt und ich falle um. Mitten ins Erdbeerfeld. Ich falle schmerzhaft auf die trockene rissige Erde. Egal. Es ist eh alles aus! Besser jetzt gleich. Ich werde sterben, mit 43 Jahren werde ich sterben! Mein Senologe hat mir gerade so schonend wie möglich beigebracht, dass ich zum vierten Mal Krebs habe. Und viermal Krebs, darüber bin ich mir in diesem Moment totsicher, überlebt man nicht.

Dabei ist mein bisheriges Leben ein einziger Überlebenskampf. Mit 13 Jahren wurde bei mir zum ersten Mal Lymphknotenkrebs diagnostiziert und mit 16 Jahren hatte ich ein Rezidiv.

Als damals mein mir sehr liebgewonnener Hausarzt Dr. Heinzmann die Diagnose Morbus Hodgkin stellte, habe ich nicht verstanden, was los ist. Mir wurde eine Chemotherapie verordnet und dafür musste ich in die von zu Hause 30 Kilometer entfernte Stuttgarter Kinderklinik, das Olgahospital oder das „Olgäle“, wie es die Schwaben nennen. Die Chemo vertrug ich recht gut, aber das schlimmste war für mich der Haarausfall und dass ich vom Cortison ein dickes Gesicht bekam. Ich fühlte mich so hässlich. Und dann kam obendrauf noch die Bestrahlung! Allein schon dieses riesige Gerät, unter das ich mich vier Wochen lang jeden Tag legen musste, jagte mir regelrechte Angstschauer über den Rücken.

In der Schule hatte ich wegen meiner Krankheit eine absolute Sonderstellung. Ich durfte mir so ziemlich alles erlauben, durfte kommen und gehen, wie mir danach war. Während der Chemotherapie untersagten meine Klinikärzte mir den Schulbesuch, da mein Immunsystem zu sehr angegriffen war. Ich gehorchte brav und blieb daheim. Fast jeden Tag kam eine Freundin vorbei und zeigte mir alles, was sie im Unterricht gemacht hatten. Doch Tag für Tag allein zu Hause zu hocken, war nicht wirklich schön.

Zum...