Erinnerungen an Dietrich Bonhoeffer - Entdeckungen in den Aufzeichnungen seiner Schwester Susanne

von: Jutta Koslowski

adeo, 2020

ISBN: 9783863348175 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 13,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Erinnerungen an Dietrich Bonhoeffer - Entdeckungen in den Aufzeichnungen seiner Schwester Susanne


 

Dietrich Bonhoeffers Persönlichkeit

Susanne geht zwar grundsätzlich, aber nicht streng chronologisch vor – immer wieder wird die Abfolge der Ereignisse durch Rückblick oder Vorausschau unterbrochen oder es werden bestimmte Aspekte unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefasst. So berichtet Susanne von ihrer Urgroßmutter mütterlicherseits Babette Meyer, die ‚keine echte Urgroßmutter war‘, sehr wohlhabend gewesen ist und in Berlin einen Salon unterhielt, in dem Politiker und Künstler ein- und ausgingen.17 Hier findet auch Dietrich Bonhoeffer zum ersten Mal Erwähnung.

„Von den Geschwistern erfuhr ich, dass sie eine getaufte Jüdin war und dass von allen Verwandten meine Eltern eigentlich die Einzigen waren, die herzlich mit ihr umgingen. Sie hatte ein herrliches Haus am Tiergarten mit einem großen Baumbestand, wo man Versteck mit Anschlag spielen konnte. Ich entsinne mich, dass sich Dietrich bei einer Geburtstagsfeier dabei ein Loch in den Kopf schlug und zum Entsetzen aller alten Damen blutüberströmt abtransportiert wurde.“18

Was erfahren wir hier über Dietrich Bonhoeffer? Dass seine Eltern ihm Solidarität mit der (jüdischen) Minderheit und (innerfamiliären) Nonkonformismus vorlebten und er diese Qualitäten nicht zuletzt ihrem Vorbild verdankte. Und dass er als Kind ein Wildfang war, der beim Toben so leicht vor nichts zurückschreckte und dabei auch eine Verletzung in Kauf nahm. Die große Bedeutung des familiären Vorbilds ist in den Quellen reichlich belegt;19 Dietrichs Draufgängertum passt dazu, dass er später als groß gewachsen und sportlich beschrieben wird.20 Und vielleicht kann man diese Mitteilung auch als Hinweis darauf verstehen, dass Dietrich mutig war, ‚seinen Kopf durchsetzen‘ und bisweilen gar ‚mit dem Kopf durch die Wand‘ wollte, und dass er bereit war, dafür Blutzoll zu entrichten? Wir wollen hier nichts überinterpretieren, aber es sollen alle möglichen Verbindungslinien ausgezogen werden, damit die Leser selbst entscheiden können, welche davon sie überzeugend finden.

Die erste (und einzige) ausführliche Beschreibung von Dietrich findet sich dort, wo Susanne ihre Geschwister beschreibt.21 Der Reihenfolge ihres Alters nach werden Karl-Friedrich, Walter, Klaus, Ursel, Christel, Dietrich und Sabine charakterisiert. Die Passage über Dietrich soll hier vollständig wiedergegeben werden, weil es sich dabei um neu zugänglich gemachtes Quellenmaterial handelt:

„Unser Baukasten hatte sehr große Klötze und Säulen. Wir hatten wohl zusammen ein Schloss gebaut mit Bogenfenstern im Turm. Durch solch ein Bogenfenster habe ich (damals muss ich wohl drei Jahre alt gewesen sein) den weißblonden Kopf von Dietrich gesehen und mich gefreut: Mein Bruder spielt mit mir. Das ist wohl meine erste Erinnerung, die ich an ihn habe. Vielleicht haben wir uns auch mal gezankt, aber das ist nie wichtig geworden, und ich weiß nichts mehr davon. Dreieinhalb Jahre Unterschied im Alter machen bei Kindern schon viel aus. Doch er ist der Einzige meiner Brüder, mit dem ich gespielt habe – und herrlich gespielt. Natürlich hatte er die absolute Führung, aber er ließ es nicht merken, und ich fühlte mich nie unterdrückt. Ich glaube, ich habe ihn angebetet; jedenfalls konnte ich mir keinen Jungen denken, der ihm irgendwie überlegen war. Er war der Stärkste, Schnellste, Klügste, Einfallsreichste, Freundlichste, Frömmste und Schönste von allen Kindern, die ich kannte. Und dass er mein Bruder war, damit gab ich gerne an. Ich ließ mich oft mit ihm sehen, auch als junges Mädchen. Er spielte viel mit mir; vielleicht mehr als mit seiner Zwillingsschwester Sabine. Sie war als Mädchen doch entsprechend weiter und nie so wild zum Toben und zu allen Jungensspielen bereit wie ich.

Von den großen Geschwistern hatte er als jüngster Bruder ziemlich zu leiden. Nicht nur, dass es ihm manchmal zu schaffen machte, dass alle Aufträge an ihn weitergegeben wurden, weil die Großen keine Zeit hatten (besonders die im Krieg so häufigen Wege auf Post und Behörden) – er wurde auch gern geneckt und gefoppt. Vielleicht war das kein Schade, da er außerhalb des Hauses übermäßig bewundert wurde. In der Schule war er, ohne etwas dafür zu tun, mit Selbstverständlichkeit der Beste; gegen das übergroße Freundschaftsangebot dort konnte er sich nur durch Arroganz und Lieblosigkeit wehren; sonst wäre er überlaufen worden und nicht mehr zu sich selbst gekommen. Die Zwillinge und ich waren ‚die drei Kleinen‘, und ich war merkwürdigerweise persönlich stolz darauf, Zwillinge als Geschwister zu haben.

Meine Geburtstagsgeschenke für die Zwillinge am 4. Februar bestanden fast immer in selbst ausgedachten Geschichten, die ich teils diktierte, teils später selbst mit viel Mühe aufschrieb; manche davon besitze ich noch heute. Wenn ich meine Mutter um Geld für ein gekauftes Geschenk gebeten hätte, wäre sie sehr verwundert gewesen. Von meinem ersten selbst verdienten Geld habe ich mit zwölf Jahren auf der Halensee-Brücke für Dietrich zum Geburtstag zehn Zigaretten gekauft, das Stück zu zehn Pfennig. Das war nicht nur eine große Ausgabe, sondern auch eine mutige Tat, denn ich hatte die Befürchtung, dass der Verkäufer mich bestimmt hinauswerfen würde. Für Sabine malte ich zu dieser Zeit Lautenbänder. Sie bekamen ihren Geburtstagstisch immer erst nach der Schule vor dem Mittagessen. Mein Vater hielt dabei nur sehr selten Reden. Meist wurde ich verpflichtet und machte es sehr kurz: ‚Weil die Zwillinge Geburtstag haben, wollen wir alle anstoßen – sie leben hoch!‘ Bei solchen Anlässen, die sich bei uns ja ziemlich häuften, pflegte es eine preiswerte türkische Torte aus dem Beamtenwirtschafts-Verein für drei Mark zu geben, die in vierfacher Ausfertigung bestellt wurde, damit sie reichte. Das wurde durch den Doppelgeburtstag variiert, weil doch jeder eine andere Torte bekommen sollte. Die Drei-Mark-Torte geriet bei uns mit Besserung der Zeiten in geheimen Verruf, der so lange schwelte, bis eines Tages beim Geburtstag der Zwillinge von den Großen laut die Frage erörtert wurde, ob es eigentlich keine anderen, weniger parfümierten Torten gäbe, oder ob die für Feste zu teuer wären. Meine Mutter versuchte eine kleine Verteidigung, die aber lachend unterbrochen wurde, weil die Rebellen sicher waren, dass sie ihr auch nicht schmeckte. So verschwand dieses Gebäck von den nachfolgenden Geburtstagstischen. Die zwei Geburtstagstische, zwei Torten rundum mit Lichtern nach der Zahl der Jahre umsteckt, und nach dem Krieg der Duft von Apfelsinen – das gehört zusammen mit der großen Kindergesellschaft am Nachmittag zum ‚Zwillingsgeburtstag‘. ‚Sofort vierzehn‘, antwortete Dietrich, als er im Jahr 1919 um die Weihnachtszeit herum gefragt wurde, wie alt er wäre. Dass er zehn Minuten älter war als Sabine, war ihm doch sehr wichtig.“22

Aus dieser Charakterisierung kann man viel Bedeutsames entnehmen. Eigentlich sprechen diese Worte (so wie das meiste in den Lebenserinnerungen von Susanne Dreß) für sich selbst, aber ein paar Bemerkungen sollen doch hervorgehoben werden: Susanne und Dietrich hatten eine enge Beziehung, und sie spielten als Kinder ausgiebig miteinander.23 Auch später sollte diese besondere Verbindung andauern, wie wir noch sehen werden. Dietrich übernahm dabei die Führungsrolle, was für einen älteren Bruder einerseits natürlich ist, aber darüber hinaus auch seiner Persönlichkeit entspricht. Er wird beschrieben als gutaussehend, kräftig, klug, ideenreich, freundlich und religiös – alles Eigenschaften, die ganz zu dem von ihm überlieferten Bild passen.24 Die Biographie von Susanne gerät hier in die Nähe einer Hagiographie; dies ist allerdings eine Ausnahme und keineswegs charakteristisch für ihren Text. Und natürlich bedeutet es nicht (ebenso wie an allen anderen Stellen in ihrem Werk), dass Dietrich so gewesen ist, sondern lediglich, dass sie ihn so gesehen hat; zumindest im Rückblick und mit einem gewissen zeitlichen Abstand. Dietrich wurde von Susanne verehrt – aber nicht nur von ihr als der jüngsten Schwester (die sich im Kreis ihrer Geschwister insgesamt keineswegs wohl fühlte), sondern auch „außerhalb des Hauses“25 wurde er „übermäßig bewundert“, wogegen er sich nach Susannes Deutung teilweise „durch Arroganz und Lieblosigkeit“ abzugrenzen versuchte. Innerhalb der Familie dagegen mit ihren vielen hochbegabten Kindern und ihrem hohen Erwartungshorizont „hatte er als jüngster Bruder ziemlich zu leiden“, und es war ihm wichtig, zumindest „zehn Minuten älter“ als seine Zwillingsschwester Sabine zu sein.

Neben dieser zusammenfassenden Beschreibung finden sich in den Lebenserinnerungen von Susanne Dreß noch zahlreiche weitere Stellen, die Rückschlüsse auf Dietrichs Persönlichkeit zulassen. So berichtet sie etwa davon, dass sich Dietrich in der Familie zu Hilfsdiensten verpflichten ließ: Gemeinsam mit Susanne musste er alljährlich im November zu Fuß ganze Wagenladungen voll mit Weihnachtspaketen zu dem etliche Kilometer entfernten Postamt Grunewald befördern.26 Im 1. Weltkrieg gingen Susanne und Dietrich „bald Abend für Abend in das Grunewald-Casino und holten einen Kübel mit Essen aus der Mittelstandsküche“.27 Als junger Mann war er der einzige von den Geschwistern, der sich auf das unbeliebte gesellschaftliche Ereignis der Universitäts-Tanzfeste einließ: „Meine...