Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen - 7 Schlüssel für ein besseres Miteinander

von: Carmen Thomas

adeo, 2020

ISBN: 9783863348137 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen - 7 Schlüssel für ein besseres Miteinander


 

Reaktanz,
was ist denn das?

Dieses Buch handelt von einer großen Entdeckung für mein persönliches und berufliches Leben: von der Kraft der Reaktanz.

„Wie bitte?“, fragen Sie jetzt vielleicht. „Ach näää, Reaktanz, was soll das denn schon wieder sein?“ Da haben sich viele gerade erst von der allgegenwärtigen „Resilienz“, der inneren Widerstandskraft, erholt, und nun kommt schon wieder so ein sperriger Begriff daher? Oder finden Sie das Wort Reaktanz etwa sexy? Ich offen gestanden nicht.

Und echt schlimm ist ja, dass das gerade mir passiert: mich in ein Phänomen zu verlieben, das auf ein so befremdliches Fachwort hört. Denn zu meinen Markenzeichen im Radio gehörte stets, dass ich Expertinnen und Experten konsequent fragte: „Können Sie das auch auf Deutsch sagen?“, wenn sie solch fremde Fremdwörter benutzten. In zahllosen Briefen wurde ja von meinem Publikum zu Recht geschimpft, wie unverständlich die Sprache von Fachleuten sei.

Seit ich die Reaktanz für mich entdeckte, habe ich immer wieder festgestellt, wie lange es allein schon braucht, sich einfach nur das fremde Wort zu merken. Und die deutsche Übersetzung „Blindwiderstand“ ist kaum besser. Widerstand – okay. Aber was soll das „Blind“ denn dabei? Wenn das beides schon so bescheuert-abstrakt heißt, wer kriegt da schon Lust, hinter dieses Phänomen zu schauen?

Das Blöde ist allerdings, dass wirklich neue Dinge, die es bisher noch nicht gab, leider auch neue Begriffe brauchen. Also gibt es ein Problem. Ach nein. Ein Berliner Hoteldirektor brachte mir mal bei: „Probleme? Gibt es hier nicht. Hier existieren nur Lösungsbedarfe.“

Also gut, mein Lösungsbedarf sieht so aus: Wie kann es gelingen, Ihnen die Sache mit der Reaktanz auf möglichst einfach-amüsante Art schmackhaft zu machen? Wie lässt sich ein Thema, von dem Sie vermutlich noch nie im Leben gehört haben, so vermitteln, dass Sie neugierig werden und mehr darüber wissen wollen – zumal es Ihnen täglich mehrfach begegnet, wie Sie beim Lesen erfahren werden?

Okay. Wie sagte dieser witzige Lehrer im Film „Die Feuerzangenbowle“ doch so schön? „Da stelle mer uns ma janz dumm!“ ... und fangen „janz vorne“ an.

Wer hat sich die Reaktanz überhaupt ausgedacht?

Im Lexikon steht: „Den Begriff der Reaktanz gibt es als ‚Blindwiderstand‘ sowohl in der Elektrotechnik als auch in der Psychologie.“

Die elektrotechnische Reaktanz hat ein Mann aus Breslau „erfunden“, der 1865 als Carl August Rudolph Steinmetz geboren wurde und als Sozialist 1889 in die USA emigrieren musste. Dort nannte er sich dann Charles Proteus Steinmetz. Um die Jahrhundertwende galt er zusammen mit Einstein, Tesla und Edison als einer der führenden Elektroingenieure. Doch seinen Namen kennen sogar Physiker heutzutage nicht mehr. Dabei dürfte er ein sehr interessanter Mensch gewesen sein: Gehandicapt und nur 1,30 Meter groß, wird er als genial scharfsinnig beschrieben. Er hat als Erster das Phänomen der Reaktanz in der Elektrotechnik beschrieben und benannt. Hier ist er rechts neben Einstein zu sehen.

In der Elektrotechnik steht Reaktanz für „eine Größe der Elektrotechnik, die einen Wechselstrom durch Aufbau einer Wechselspannung begrenzt (…). Der Zusatz ‚blind‘ rührt daher, dass elektrische Energie zu den Blindwiderständen zwar transportiert, aber dort nicht in Energie umgewandelt wird.“ So steht’s bei Wikipedia.

Uff, Bahnhof!? Genauso ratlos, wie Sie jetzt vielleicht gucken, lässt mich das auch zurück. Könnte das bedeuten, dass der Reaktanz-Blindwiderstand eine Gesetzmäßigkeit ist, die erstens nicht zu beeinflussen und zweitens ohne produktiven Output ist? Hmmm. Also, die Mechatronikerin meines Vertrauens erklärte mir das so: „Jedes Autofenster hat im Fensterheber ein Relay. Durch seinen Widerstand verbraucht es auch dann ständig Strom, wenn es nicht bedient wird. Der Blindwiderstand verhindert im Auto, dass Energie fließt. Damit wird die Energie blockiert und der Strom am Fließen gehindert, bis der Fensterheber aktiv benutzt wird, oder jemand den Finger dazwischensteckt. Der Reaktanz ist eine schnelle Reaktion zu verdanken, und dass der Finger dranbleibt.“

Das finde ich jetzt gar nicht so übel. Genauso verbraucht die Reaktanz in der Kommunikation Energie und blockiert den Energiefluss, der nötig ist, um Lösungen zu finden. Denn die innere Energie wird im Blockieren gebunden.

Und die psychologische Seite der Reaktanz? Laut dem „Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache DWDS“ taucht das Wort „Reaktanz“ in der Presse nur selten auf. 2011 gab es einen großen Artikel in der ZEIT zum Thema Reaktanz mit dem Titel „Sog der Masse“1. Darin geht es um das sozialpsychologische Phänomen der Reaktanz. Und das hat sich Jack Brehm, Harvard-Absolvent und Professor an der Universität von Kansas, ausgedacht und mit seiner Frau Sharon beschrieben. Das ist er:

Über ihn gibt es nicht mal einen Wikipedia-Eintrag. Bekannt ist, dass er von 1928 bis 2009 lebte und 1966 das erste Buch über die Theorie der Reaktanz schrieb2. Schade, dass er schon tot ist; ich hätte ihm gern dieses Buch geschickt und ihm geschrieben, wie dankbar ich ihm für seine Erkenntnisse bin.

Unter „psychologischer Reaktanz“ heißt es also im Lexikon: Darunter „versteht man eine komplexe Abwehrreaktion, die als Widerstand gegen äußere oder innere Einschränkungen aufgefasst werden kann. Reaktanz wird in der Regel durch psychischen Druck (emotionale Argumentation, Nötigung, Drohungen) oder die Einschränkung von Freiheits-Spielräumen (Verbote, Zensur) ausgelöst. Als Reaktanz im eigentlichen Sinne bezeichnet man dabei nicht das ausgelöste Verhalten, sondern die zugrunde liegende Motivation oder Einstellung.“

Das heißt, dass die Reaktanz, also der „innere Blindwiderstand“, psychologisch dann entsteht, wenn ein Mensch die eigene Entscheidungsfreiheit gefährdet sieht. Inklusive der Tendenz, gegen diese Bedrohung zu rebellieren, ergibt sich daraus eine innere Abwehrhaltung, ein unklarer, also blinder Widerstand gegen Beeinflussungsversuche bis hin zu blockierenden Trotzreaktionen. Ist jetzt wohl schon eine erste Idee entstanden, was reaktantes Verhalten ist?

Die Reaktanz, also der innere Blindwiderstand, entsteht dann, wenn ein Mensch die eigene Entscheidungsfreiheit gefährdet sieht.

Und das legen Menschen buchstäblich ja bereits seit Adam und Eva an den Tag: „Dann legte Gott, der Herr, einen Garten im Osten an, in der Landschaft Eden, und brachte den Menschen, den er geformt hatte, dorthin. Viele prachtvolle Bäume ließ er im Garten wachsen. Ihre Früchte sahen köstlich aus und schmeckten gut. (…) Er gab ihm die Aufgabe, den Garten zu bearbeiten und ihn zu bewahren. Dann schärfte er ihm ein: ‚Von allen Bäumen im Garten darfst du essen, nur nicht von dem Baum, der dich Gut und Böse erkennen lässt‘“, so heißt es in der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 2,8-9; 16-17). Und vermutlich ist den meisten noch in Erinnerung, was diese winzige Einschränkung in der Entscheidungsfreiheit und die darauf folgende Reaktanz alles ausgelöst hat.

Irre, dass das bis heute unverändert genau so weiterläuft. Und das von klein auf. Kürzlich traf ich den TV-Moderator und Arzt Eckart von Hirschhausen. Er fragte, was ich denn aktuell mache. Ich sagte: „Ein Buch über Reaktanz schreiben.“ Und da haute er mich vom Hocker, indem er in all den Jahren, in denen mich die Reaktanz bereits fasziniert, der erste Mensch war, der auf Anhieb etwas Konkretes zum psychologischen Teil des Themas beizutragen hatte: „Den Begriff kenne ich von meiner Frau. Die ist Psychologin. Sie hat mir auch ein illustrierendes Beispiel erzählt: Wenn ein Kind zwanzig Buntstifte bekommt und ihm jemand sagt: ‚Du darfst mit allen 19 Stiften malen, nur nicht mit dem gelben‘, dann will das Kind natürlich unbedingt mit dem gelben malen.“ Von Hirschhausen grinste: „Das darf ruhig mit Quellenangabe mit ins Buch kommen.“ Voilà: ist verdient.

Ein anderes, vermutlich gut bekanntes Beispiel ist der Gedanke: „Vor dem Urlaub muss ich unbedingt drei Kilo abnehmen! Ab sofort gibt’s FdH-Diät!“ Und schwupps – schon folgt eine Fressattacke nach der anderen, die die Bikini- beziehungsweise Tarzan-Figur aufs Tragischste boykottiert.

Diesen „Jetzt erst recht“-Effekt, der zu den Reaktanz-Reaktionen gehört, nutzt auch die Werbung für sich, indem sie mit Schlagwörtern wie „Nur so lange der Vorrat reicht“ oder „Nur noch fünf Stück auf Lager!“ eine Knappheit suggeriert, die das Angebotene besonders begehrenswert macht. Wenn Kundinnen und Kunden so ihre Wahlfreiheit bedroht sehen, sind sie versucht, den reaktanten Spannungszustand abzubauen. Dabei kann dann allerhand passieren: fieberhaftes Bemühen, um den schwer zugänglichen Artikel zu bekommen. Aber auch Trotz mit Abwertung des Gegenstands oder Aggression mit Ächtung des Geschäftes.

Oder: Wenn im Lokalteil der Zeitung steht, dass das alte Kino im Ort dichtgemacht werden soll, sind Menschen plötzlich aufgebracht, traurig, ja zornig, weil diese Möglichkeit der Freizeitgestaltung wegfällt. Und das auch, wenn sie im Grunde schon seit Jahren nicht mehr in dem Kino waren und auch kein Bedürfnis danach verspürt haben, weil die Sitze dort unbequem waren, das Popcorn muffig schmeckte und die Filmauswahl bei Netflix sowieso besser ist. Angesichts der bedrohten Entscheidungsfreiheit ist das alles plötzlich nebensächlich: Aus der Reaktanz gespeist sollen bisher gewohnte Möglichkeiten dann unbedingt erhalten werden.

Der...