Lean UX - Produktentwicklung und -design mit agilen Teams

von: Jeff Gothelf, Josh Seiden

mitp Verlags GmbH & Co. KG, 2020

ISBN: 9783958456297 , 272 Seiten

2. Auflage

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Lean UX - Produktentwicklung und -design mit agilen Teams


 

Einleitung


Die größte Lüge in der Softwareentwicklung ist die sogenannte Phase 2.

Wer in den letzten 20 Jahren auch nur ansatzweise mit der Entwicklung digitaler Produkte zu tun hatte – egal, in welcher Funktion –, hat den Stachel dieser Lüge garantiert schon zu spüren bekommen: Bestimmte Features und Ideen wurden in die nächste Arbeitsphase, Phase 2, verschoben und verschwanden damit auf Nimmerwiedersehen. Als Designer haben wir bereits Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Wireframes und Workflows in diesem Fass ohne Boden versenkt.

Aber sind diese Konzepte nie wieder aufgegriffen worden, weil sie fehlerhaft waren? Entsprachen die gelieferten Features überhaupt den Kundenanforderungen und Geschäftszielen? Oder ist dem Team einfach die Zeit davongelaufen? In jedem Fall wurde Phase 2 niemals erreicht.

In seinem Buch »Lean Startup: Schnell, risikolos und erfolgreich Unternehmen gründen« (Redline Verlag, 2014) erläutert Eric Ries seine Vision davon, wie sich gewährleisten lässt, dass vorrangig denjenigen Ideen, die den größten Nutzwert versprechen, die meisten Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die von ihm beworbene Methode beruht auf Experimentierfreudigkeit, schneller Ideeniteration und evolutionären Prozessen. Aus seiner Sicht wird das gesamte Konzept der Phase 2 irrelevant.

Lean UX repräsentiert die Zusammenführung der Lean-Startup-Methode und des User-Experience(UX)-basierten Designs – und auch ihre symbiotische Koexistenz.

Was ist Lean UX?


Die der Lean-Startup-Methode zugrunde liegenden Lean-Prinzipien wirken sich auf dreierlei Art und Weise auch in Lean UX aus: Zum Ersten ermöglichen sie es uns, alles Unnötige aus dem UX-Designprozess zu entfernen. Wir bewegen uns von massiv dokumentierten Handoffs weg und stattdessen hin zu einem Prozess, in dem nur die Designartefakte erschaffen werden, die wir brauchen, um den Lerneffekt für das Team zu fördern.

Zum Zweiten sorgen sie auch dafür, dass wir unser »System« von Designern, Entwicklern, Produktmanagern, QA-Engineers, Marketing- und anderen Fachleuten in einer transparenten Form der interdisziplinären Zusammenarbeit harmonisieren, die auch Nicht-Designer in den Designprozess mit einbindet.

Und die letzte und vielleicht wichtigste Auswirkung dieser Prinzipien ist, dass sie uns über die Adaption eines experimentbasierten Entwicklungsmodells zu einem Umdenken bewegen. Wir verlassen uns nicht mehr darauf, dass uns irgendein heldenhafter Designer die von einem einzelnen Standpunkt aus betrachtet beste Lösung weissagt. Stattdessen bedienen wir uns einer schnellen Experimentier- und Bewertungsabfolge, um schnellstmöglich festzustellen, wie gut (oder eben auch nicht gut) unsere Ideen unseren Zielsetzungen entsprechen. In diesem gesamten Prozess beginnt sich die Rolle des Designers im Sinne der Design Facilitation, sprich der Erleichterung des Designprozesses, herauszubilden – und damit nehmen wir eine Reihe neuer Verantwortlichkeiten auf uns.

Neben der Lean-Startup-Methode baut Lean UX aber noch auf zwei weiteren Grundfesten auf: dem Design Thinking und den Philosophien der agilen Softwareentwicklung. Beim Design Thinking wird ein lösungsorientierter Ansatz zur Problembehebung verfolgt, indem gemeinschaftlich über einen nicht endlichen, veränderlichen Pfad zur Perfektion iteriert wird. Hier wird mittels spezifischer Ideenbildung, Prototyping, Implementierung und schrittweisem Lernen auf die Produktziele hingearbeitet, um die passende Lösung zutage zu fördern. Und das Element der Agilität lenkt den Fokus der Softwareentwicklung wieder auf den Nutzwert zurück. Die Zielsetzung hierbei lautet, den Kunden schnellstmöglich eine funktionierende Software zu liefern und regelmäßige Anpassungen entsprechend neu hinzugewonnener Erkenntnisse vorzunehmen.

Lean UX nutzt diese Grundfesten, um die Pattsituation zwischen der Schnelligkeit der agilen Methoden und dem Designbedarf in dem Lebenszyklus der Produktentwicklung zu durchbrechen. Sollten Sie sich mit der Frage herumplagen, wie das UX-Design in einer agilen Umgebung funktionieren kann, dürfte Ihnen Lean UX in dieser Beziehung weiterhelfen.

Die Lean-UX-Methode reißt Barrieren ein, die bislang für die Isolierung der Softwaredesigner von den realen geschäftlichen Anforderungen einerseits und der tatsächlichen Implementierung andererseits gesorgt haben. Sie bringt nicht nur Softwaredesigner an den Tisch, sondern auch unsere Geschäftspartner aus Wirtschaft und Technik an das Whiteboard, um mit uns gemeinsam in nachhaltiger Weise die bestmöglichen Lösungen zu erarbeiten.

Vor einiger Zeit wurde die Agentur, für die Jeff damals tätig war, von einem großen Kunden aus der pharmazeutischen Industrie beauftragt, dessen E-Commerce-Plattform mit der Zielvorgabe einer 15-prozentigen Umsatzsteigerung umzugestalten. Jeff war seinerzeit der leitende Interaction Designer des zuständigen Teams. In dem Vakuum ihrer Büros verbrachten Jeff und sein Team Monate damit, das vorhandene System, die Lieferkette, die Konkurrenz, die Zielgruppe sowie kontextabhängige Szenarien zu untersuchen. Sie recherchierten Personas, also Modelle aus dem Bereich der Mensch-Computer-Interaktion, und entwickelten dementsprechende strategische Modelle. Jeff entwarf eine neue Informationsarchitektur für den Produktkatalog und entwickelte ein brandneues Shopping- und Checkout-System.

Das Projekt dauerte Monate. Und als sie mit der Arbeit fertig waren, verpackten sie das Ganze schließlich in einen schicken PowerPoint-Foliensatz – angesichts des angehängten Preisschilds von 600.000 US-Dollar natürlich in einen atemberaubend schicken Foliensatz! Das Team machte sich auf den Weg in das Büro des Kunden und verbrachte dort einen kompletten Acht-Stunden-Tag damit, jedes einzelne in diesem Foliensatz verwendete Pixel und Wörtchen zu erläutern. Als dann alles vorbei war, wurden sie von den Anwesenden sogar mit Applaus bedacht (wirklich!). Sie waren hellauf begeistert – Jeff und sein Team waren erleichtert. Und das Team hat nie wieder einen Blick auf diesen Foliensatz geworfen.

Sechs Monate nach diesem Meeting hatte sich aufseiten des Kunden absolut nichts verändert – auch dort hat niemand jemals wieder einen Blick auf den Foliensatz geworfen.

Und die Moral von der Geschicht’: Eine pixelperfekte Spezifikation mag zwar eine Möglichkeit darstellen, eine sechsstellige Beratungsgebühr einzustreichen – das heißt aber noch lange nicht, dass sie auch sinnvolle Veränderungen an einem echten Produkt bewirkt, die für echte User relevant sind. Ebenso wenig ist sie der Grund dafür, warum sich Designer dem Betätigungsfeld des Produktdesigns verschreiben. Nein, wir haben diesen Beruf gewählt, um werthaltige Produkte und Dienste zu erstellen, nicht, um Spezifikationen zu schreiben.

Einige Teams, mit denen wir heute zusammenarbeiten, erschaffen von Grund auf neue, bislang nie da gewesene Produkte oder Dienste. Sie agieren nicht innerhalb eines existierenden Produktframeworks oder einer bereits vorhandenen Struktur. Bei solchen »Grüne-Wiese-Projekten« versuchen wir gleichzeitig zu ergründen, wie das neue Produkt bzw. der neue Dienst genutzt werden wird, wie sie sich verhalten und wie wir sie errichten werden. Hierbei handelt es sich um eine Umgebung, die sich kontinuierlich verändert, das heißt, es stehen weder allzu viel Zeit noch Muße für eine längere Planung oder ein Vorab-Design zur Verfügung.

Andere Teams arbeiten dagegen an etablierten Produkten, die mit traditionellen Design- und Entwicklungsmethoden erschaffen wurden. Hier stellt sich eine andere Herausforderung: In diesem Fall muss auf bereits vorhandene Plattformen aufgebaut werden, um Umsatz und Markenwert zu steigern. Diese Teams verfügen zwar in der Regel über mehr Ressourcen als ein Ground-Floor-Start-up, dennoch müssen auch sie diese Ressourcen natürlich ebenfalls effizient nutzen, um Produkte und Dienste zu realisieren, die ihre Kunden auch wirklich wollen.

Während unserer ersten praktischen Erfahrungen mit Lean UX mussten wir zunächst einmal lernen, das Gefühl zu überwinden, die von uns präsentierten Ergebnisse seien irgendwie »hässlich«, »unvollständig« oder »unfertig«. Inzwischen wissen wir, dass der erste Anlauf zwangsläufig überarbeitet werden muss. Und je eher wir Ideen sammeln, desto schneller können wir herausfinden, welche Änderungen wir vornehmen müssen. Zu lange auf dieses Feedback zu warten, ist unrationell. Wir investieren zu viel Zeit in das ursprüngliche Design und sind dann Änderungen gegenüber weniger aufgeschlossen, weil wir schon so viel Arbeit hineingesteckt haben. Diese Art zu arbeiten erfordert die Unterstützung eines äußerst gut funktionierenden Teams. Man muss sich – als Team – darüber im Klaren sein, dass man nicht alles gleich von Anfang an richtig hinbekommt und dass man gemeinsam daran arbeitet, sukzessive voranzuschreiten.

Für den Erfolg digitaler Systeme sind viele Faktoren verantwortlich. Das Design spielt zweifelsohne eine wichtige Rolle, aber auch Produktmanagement, Engineering, Marketing, die Beachtung gesetzlicher Vorschriften und Werbetexte (um nur einige zu nennen) sind von Bedeutung. Keiner dieser Bereiche kann allein alle Aufgaben lösen, das liegt in der Natur der Sache. Durch Zusammenarbeit entsteht ein besseres Ergebnis. Überarbeitungen und Iterationen führen zu besseren Produkten. Wir haben in diesem Buch sämtliche Einblicke und Taktiken für Sie zusammengetragen, die uns und unseren Produkt- und Business-Teams zu echten Erfolgen und unseren Kunden zu echter Zufriedenheit verholfen haben.

An wen richtet sich Lean...