Planspiele Pflege und Gesundheit - Anwendungsbeispiele für die berufliche Bildung

von: Andrea Kerres, Christiane Wissing

Kohlhammer Verlag, 2020

ISBN: 9783170358195 , 147 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 25,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Planspiele Pflege und Gesundheit - Anwendungsbeispiele für die berufliche Bildung


 

3          Planspiel: Kindeswohl


 

 

3.1       Einleitung


Dieses Planspiel wurde als Pilotprojekt entwickelt, um die Idee, dass Studierende der Pflegepädagogik diese Methode selbständig in einem Modul anwenden sollen, auszuprobieren. Zu diesem Zeitpunkt lag noch keine detaillierte Planung über die Lehrveranstaltung vor, weshalb sich dieses Planspiel im Aufbau von den studentischen Planspielen unterscheidet und auch nicht in die Evaluation miteinbezogen wurde. Die Autorinnen entschieden sich nichtsdestotrotz dafür, dieses Planspiel mitaufzunehmen, da es eben den Ausgangspunkt darstellt und ein brisantes Thema behandelt. Als Inspiration für das folgende Planspiel wurde das Planspiel Kooperation bei Kindeswohlgefährdung des Netzwerks Kinderschutz herangezogen (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2006).

3.2       Lernfeld


Das Thema Kindeswohl ist im 1. Ausbildungsjahr in dem Lernfeld Berufskunde der Gesundheits- und Krankenpflege verortet (ISB 2005: 19):

»Die Schülerinnen und Schüler orientieren sich in der durch den Beginn ihrer beruflichen Ausbildung veränderten Lebenssituation und kennen ihre Rechte und Pflichten innerhalb der Ausbildung und ihrer späteren beruflichen Tätigkeit. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten Regeln für eine konstruktive, vertrauensvolle Zusammenarbeit und offene Kommunikation und wenden diese an. Die Schülerinnen und Schüler kennen die wesentlichen Aufgaben- und Leistungsschwerpunkte der beruflichen Arbeitsfelder. Sie haben einen Überblick über die Berufsgruppen des Gesundheitswesens sowie weitere Berufsgruppen und Einrichtungen, mit denen sie zusammenarbeiten. Auf physische und psychische Belastungen im Beruf sind die Schülerinnen und Schüler vorbereitet. In solchen Situationen holen sie sich Unterstützung und sorgen für einen gesunden Ausgleich.« (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) 2005: 19; Hervorhebungen C.W.)

Das Thema passt nicht auf den ersten Blick in dieses Lernfeld, jedoch lässt sich die Formulierung des übergeordneten Ziels durchaus damit verbinden. Es ist die Pflicht einer/-s Gesundheits- und Krankenpflegers/-in Anzeichen, eine Vernachlässigung bzw. eine Kindesmisshandlung zu erkennen. Die Pflegekraft nimmt hier als erste Kontaktperson, beispielsweise bei der Aufnahme in der Klinik, eine Schlüsselfunktion ein.

Lernende tendieren erfahrungsgemäß dazu, eine einseitige, emotionale Sicht auf dieses Thema einzunehmen. Teilweise kamen in vorangegangenen theoretisch aufbereiteten Unterrichten Äußerungen wie »manche Kinder brauchen mal ne Watsch‹n« oder »der Täter gehört selber verprügelt« oder »Warum hat die Sozialarbeiterin nicht früher etwas gemacht?« zutage. Im Rahmen dieser Lerneinheit berichtete ein Lernender aus seiner Kindheit, in der Handgreiflichkeiten seitens seiner Eltern für ihn normal waren.

Aufgrund der hohen Emotionalität sowie der Komplexität des Themas bietet sich ein Planspiel sehr gut an, um unterschiedliche am Geschehen beteiligte Rollen einzunehmen und eine andere Sichtweise auf das Thema sowie Einsicht in andere Perspektiven zu gewinnen. Ebenso sollen sich die Lernenden der hohen Affektivität des Themas bewusst werden, um im zukünftigen Arbeitsfeld professionell handeln zu können (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009).

Folgende Lernziele sollen mit dem Planspiel erreicht werden:

•  Übernahme einer anderen Perspektive

•  Flexible Reaktion auf unvorhersehbare Geschehnisse

•  Erkennen von Zusammenhängen im Bereich Kindeswohl

•  Grundlagen der Gesprächsführung: Vorbereitung und Durchführung eines Gesprächs (Ziele und Strategie)

3.3       Thema Kindeswohl


Im Jahr 2013 wurde bei 17.000 Kindern eine akute Gefährdung des Kindeswohls durch das Jugendamt festgestellt. Bei weiteren 21.000 wurde eine latente Gefährdung erkannt. Viele Säuglinge fallen schweren Unfällen im häuslichen Bereich zum Opfer. Die zweithäufigste Todesursache im Säuglingsalter ist Gewalt (Welt 2014). Am häufigsten geschieht Gewalt in den ersten fünf Lebensjahren. 77 % der misshandlungsbedingten Todesfälle ereignen sich in den ersten 48 Lebensmonate (Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK) 2018). Deshalb gilt es, besondere Aufmerksamkeit auf Kinder in der frühen Kindheitsphase zu legen.

Gewalt kann in Form von aktiver und passiver Vernachlässigung, physisch, psychisch oder in sexueller Form geschehen. Grundsätzlich wird Kindesmisshandlung als »einzelne oder mehrere Handlungen oder Unterlassungen durch Eltern oder andere Bezugspersonen, die zu einer körperlichen oder psychischen Schädigung von Kindern oder Jugendlichen führen, das Potenzial einer Schädigung haben oder die Androhung einer Schädigung enthalten« definiert (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (STMAS) 2012).

Gewaltausübende Eltern tendieren zum »Ärztehopping«, d. h., sie wechseln häufig die Ärzte, haben keinen festen Kinderarzt, das Kinderuntersuchungsheft ist unregelmäßig geführt oder sogar unauffindbar. Oft kommen Eltern mit ihrem misshandelten Kind auch in eine Notaufnahme einer Klinik für Erwachsene. Aus diesen Gründen brauchen angehende Pflegekräfte der Gesundheits- und Krankenpflege sehr gute Kenntnisse über die physische, psychische und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, um Schädigungen im Zusammenhang mit Vernachlässigung oder Misshandlung zu erkennen und entsprechende Hilfemaßnahmen einleiten zu können. Die Auswirkungen schädigender Einflüsse in den unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Kindheit und Jugendzeit sind völlig unterschiedlich. Als Faustregel gilt: je jünger das Kind, desto gravierender die Folgen.

3.4       Bedingungsanalyse


Das Planspiel wurde für eine Klasse der Gesundheits- und Krankenpflege zum Ende des ersten Ausbildungsjahres geplant. Vor dem Planspiel fand der Unterricht zum Thema Gewalt in der Pflege, Kinderkrankenpflege und Entwicklungspsychologie statt. Die Gruppe besteht aus 29 Lernenden, fünf Männer und 24 Frauen, die eine Altersspanne zwischen 17 und 34 Jahren aufweisen. Ebenso finden sich unterschiedliche Schulabschlüsse sowie Sprachkenntnisse bei den Lernenden. Ein Teil der Gruppe hat den pädiatrischen Einsatz in einer neurologischen sowie orthopädischen Kinderklinik oder einem Kindergarten absolviert. Als Orientierung hinsichtlich des Vorwissens werden die vorher genannten Inhalte zugrunde gelegt.

3.5       Rollen2


Da die Lernenden ein geringes Vorwissen zu dem komplexen Thema des Kindeswohls haben, werden die Rollenprofile sehr differenziert ausformuliert. Dies entspricht einer holistischen Falldarstellung, auch whole case genannt (vgl. Sailer et al. 2017). Bei dieser Art der Fallpräsentation stehen alle für die entsprechende Rolle relevanten Informationen zur Verfügung.

Folgende Rollenprofile wurden entwickelt

•  Mutter

•  Kind

•  Lehrerin

•  Erzieherin

•  Sozialarbeiterin

•  Pflegekraft

•  Vater der Mutter (Opa)

Die Lernenden sollten schnell ins Spiel finden und aktiv werden, somit gab es für die Lernenden keine Wahlmöglichkeit bzgl. der Rolle. Diese Entscheidung begründet sich auf dem engen zeitlichen Rahmen von fünf Unterrichtseinheiten. Die Klassenleitung teilte die Gruppen ein, um eine gute Mischung der Lerntypen, weg von der eingefahrenen Gruppendynamik, zu gewährleisten. Die Rollen sowie die Räume wurden mit der Gruppeneinteilung zugeteilt.

3.6       Rollenbeschreibung: Situation der Mutter


Steckbrief

•  Name: Miriam Brenner

•  Alter: 24 Jahre

•  Beruf: Versicherungskauffrau bei einer Versicherungsagentur

Aktuelle Situation

Es ist Freitag, am frühen Nachmittag. Sie sitzen in der Arbeit und waren gestern Abend feiern. Dementsprechend müde sind Sie jetzt. Heute müssen Sie aber bis 17 Uhr bleiben. Gegen 14:30 Uhr klingelt Ihr Handy. Die Kinderklinik ist dran: Melina hat sich im Hort verletzt und Sie sollen bitte in die Klinik kommen. Erschrocken packen Sie Ihre Sachen, verlassen...