Das Gezeiten-Modell - Der Kompass für eine recovery-orientierte, psychiatrische Pflege

von: Phil Barker, Poppy Buchanan?Barker

Hogrefe AG, 2020

ISBN: 9783456960340 , 296 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, Online Lesen

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 32,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Das Gezeiten-Modell - Der Kompass für eine recovery-orientierte, psychiatrische Pflege


 

Interview mit Phil Barker und Poppy Buchanan-Barker


Das Gespräch mit den beiden Autoren wurde im Vorfeld dieser Publikation geführt. Die Fragen wurden vom Herausgeberteam gestellt.

Lieber Phil, liebe Poppy

Die erste Veröffentlichung des Gezeiten-Modells liegt nun einige Jahre zurück. Was ist in der Zwischenzeit geschehen?

Seit Erscheinen der ersten Gezeiten-Publikation im Jahre 1998 sind 15 Jahre vergangen. Seither ist viel geschehen. Die wichtigsten Entwicklungen drehen sich um den philosophischen Kern:

  • Wir haben die Definition von Recovery vereinfacht, die wir nun als «Wieder-in-Gang-Kommen» beschreiben. Damit wird berücksichtigt, dass das zentrale Merkmal, nach dem wir bei dieser Person suchen, eine Art «Vorwärtsbewegung» ist. Wir erkennen jedoch an, dass die Person, wie bei den Gezeiten, «zurückfallen» kann und den Prozess der «Vorwärtsbewegung» wieder ganz von vorn beginnen muss.
  • Mit der Entwicklung der 10-Gezeiten-Verpflichtungen haben wir auch die zentralen philosophischen Merkmale des Gezeiten-Modells klarer definiert. Sie stellen «Überzeugungen» dar, die jeder gezeitenorientierte Praktiker haben müsste. Diese Verpflichtungen könnten jedoch auf beliebig viele Weisen zum Ausdruck gebracht oder in die Praxis umgesetzt werden. Dies hat geholfen, dass sich Menschen stärker bewusst machen, dass das Gezeiten-Modell flexibel ist, was den Praktiker zu Kreativität ermutigt.
  • Auf Bitten eines Pflegedirektors, dessen Dienstleistung sich an dem Gezeiten-Modell orientierte, entwickelten wir 2003 die 20 Gezeiten-Befähigungen. Er wünschte sich einen einfachen Weg, um zu beurteilen oder einzuschätzen, ob die Fachpersonen die 10-Verpflichtungen umsetzten oder nicht. Die 20 Gezeiten-Befähigungen wurden durch die Leitungen von Einrichtungen – zusammen mit den 10-Verpflichtungen – weithin eingesetzt, um auf diese Weise Pflegepolitik oder die Recovery-Philosophie insgesamt innerhalb der Einrichtung zu vertiefen.
  • In den vergangenen 15 Jahren haben wir auch einige Aspekte der Gezeiten-Praxis – vor allem unsere Beschreibung der «Einzelsitzung», des «Sicherheitsplans» und der drei Arten von Gruppenarbeit – verfeinert. Diese unterscheiden sich alle deutlich von den Prozessen, die wir erstmals in den späten 90er Jahren entwickelten. Wir halten sie jetzt für viel einfacher oder eleganter.
  • Das Gezeiten-Modell wurde ins Japanische und ins Dänische übersetzt und erlaubt Fachpersonen, die der englischen Sprache nicht mächtig sind, das Modell in ihrer Praxis zu studieren und anzuwenden.
  • Ursprünglich wurde das Gezeiten-Modell für den Einsatz in akutpsychiatrischen Einrichtungen und kommunalen Settings entwickelt. In den vergangenen 15 Jahren wurde es in Programme der Forensik, der Rehabilitation und des Drogen- bzw. Substanzmissbrauchs eingeführt. Es wurde auch in Einrichtungen für Menschen mit psychiatrischen Diagnosen aller Art, für Menschen mit Lernbehinderungen, mit Erkrankungen des autistischen Spektrums und in Frühstadien der Demenz angewandt.
  • Ursprünglich wurde das Gezeiten-Modell als Pflegemodell entwickelt. In den vergangenen 15 Jahren hat eine Reihe anderer Berufsgruppen der Gesundheitsversorgung und der Sozialfürsorge das Modell in ihre Praxis übernommen, z. B. Ergotherapeuten, Sozialarbeiter, Berater, Physiotherapeuten und Psychiater. Wir sind uns darüber im Klaren, dass das Gezeiten-Modell zunehmend auch auf nichtstaatliche Settings eingesetzt wird, in denen viele praktisch Tätige keine formale Qualifikation zur Gesundheitsversorgung oder Sozialfürsorge haben, darunter Projekte, in denen die Mitarbeiter unter Umständen zuvor «Patienten» oder «Klienten» der psychiatrischen Versorgung waren.
  • Seit dem Erscheinen von Dr. Nancy Brookes Kapitel über das Gezeiten-Modell in Nursing Theorists and Their Work (Alligood, 2017)1 wird das Gezeiten-Modell weithin auf Postgraduiertenniveau (Master) studiert, vor allem in den USA und in einigen südamerikanischen Ländern, wo Pflegemodelle und -theorien seit langem geschätzt werden.

Wie erklärt Ihr Euch das große Interesse am Gezeiten-Modell?

In der Pflege scheint das zunehmende Interesse am Gezeiten-Modell mit der Art zusammenzuhängen, in der es Pflegenden zu klären hilft, wie sie personenzentrierte Pflege leisten könnten:

  • Viele Pflegende sagen uns, man lehre sie die Theorie der «personenzentrierten Pflege», brächte ihnen aber nur selten bei, «wie» man sie praktiziert. Das Gezeiten-Modell scheint jenen Pflegenden zu helfen, den Zusammenhang zwischen der zentralen Philosophie, der Theorie und der Praxis zu erkennen.
  • Am häufigsten sagen uns Pflegende: «Das Gezeiten-Modell erinnert mich daran, warum ich eigentlich mit Pflege begonnen habe.» Viele Pflegende haben uns erzählt, ihre ursprüngliche Berufung habe darin bestanden, Menschen zu helfen, dass es ihnen besser gehe. Zunehmend stellten sie jedoch fest, dass ihre Arbeit letztlich darin bestand, sich auf Dokumentation, das Verfassen von Berichten und Verwaltungstätigkeiten zu konzentrieren. Die eigentliche pflegerische Tätigkeit hat eher beaufsichtigenden Charakter angenommen, indem Medikamente ausgegeben und Türen verschlossen werden, in dem Versuch, leidende Menschen zu kontrollieren und in Gewahrsam zu halten. Solche Aspekte der Rolle mögen zwar wichtig sein, haben aber jeden Versuch, «therapeutisch» zu sein, überlagert. Auch hier sagen uns Pflegende, man habe sie zwar die «Theorie» von «therapeutischen Beziehungen» gelehrt, jedoch hätten sie nur wenig spezifische Anleitung erhalten, «wie» man sie praktiziere.
  • Das Gezeiten-Modell stützt auch Pflegende und andere Praktiker, die an einer recovery-orientierten Praxis interessiert sind.
  • In den meisten Settings der psychiatrischen Gesundheitsdienstleistungen sind Pflegende zahlenmäßig die größte Berufsgruppe. Oft wurde jedoch die therapeutische Rolle der Pflegenden ausgehöhlt, mit der Folge, dass andere Mitglieder des Teams die «Therapie» leisten, während die Pflegenden nur unspezifische Versorgung oder Unterstützung leisten. Das Gezeiten-Modell bietet einen Weg, auf dem Pflegende ihre therapeutischen Rollen wieder einfordern können, indem sie eine therapeutische Form der Versorgung leisten, welche die von anderen Teammitgliedern geleistete Versorgung oder Behandlung ergänzen kann.
  • Andere Berufsgruppen haben erkannt, dass sie in der Praxis des Gezeiten-Modells eng mit Pflegenden zusammenarbeiten können. Ein Professor für Psychiatrie sagte: «Es sind nicht nur Pflegende, die ‹caring› betreiben – ich bin Arzt und auch ich betreibe ‹caring›2.» Dieser Psychiater hat geholfen, das gesamte Team – Pflegende, Ärzte und verschiedene Therapeuten – zu ermutigen, in der praktischen Anwendung des Gezeiten-Modells eng zusammenzuarbeiten. Dies hat zu einem stringenteren Teamansatz geführt.
  • Auch die Ansichten der Menschen, die «Patienten» oder «Klienten» der Einrichtung sind, waren extrem wichtig für das zunehmende Interesse am Gezeiten-Modell. Bei allen Projekten, an denen wir beteiligt waren, war die Unterstützung von «Patienten» sehr bedeutsam. In den Settings, in denen formelle Auditierungen oder Forschungsevaluationen durchgeführt wurden, ergab sich eine Menge aussagefähiger Belege, die den Wert verdeutlichen, den Patienten und deren Familien dem Gezeiten-Modell beimessen. Der einzigartige Schwerpunkt des Gezeiten-Modells, die eigenen Worte der Person zu verwenden, wird von Patienten und deren Familien sehr geschätzt und würdigt, dass Menschen geholfen werden kann, ihre eigenen Lösungen für ihre gegenwärtigen Schwierigkeiten zu finden.

Viele Fachpersonen, die das Gezeiten-Modell in ihre tägliche Arbeit integrieren möchten, stehen vor der Frage: «Wie kann ich mit dem Modell zu arbeiten beginnen? Was ist der erste Schritt und wo liegen die Stolpersteine?»

Zuerst einmal müssen Fachpersonen daran interessiert sein, auf personen- und recovery-orientierte Weise zu arbeiten. Wir haben stets gesagt, dass es nicht das Gezeiten-Modell ist, das «arbeitet». Es geht vielmehr darum, wie die Fachpersonen das Gezeiten-Modell einsetzen.

Viele Fachpersonen möchten dem Patienten einen Rat geben oder auf ihre gegenwärtigen Probleme eingehen. All solche Ambitionen müssen Fachkräfte zur Seite legen, da sie jeden Versuch stören, der Person beim Verstehen ihrer eigenen Probleme und beim Entdecken ihrer eigenen Lösungen zu helfen. Fachkräfte müssen von der Person lernen, was «funktioniert» oder «hilfreich ist», statt zu versuchen, zu beraten oder Anweisungen zu geben.

Praktisch gesprochen muss als Erstes das Handbuch des Gezeiten-Modells studiert werden. Als Nächstes müssen Praktiker Aspekte des Gezeiten-Modells aneinander üben, um allmählich zu lernen, wie man auf diese Weise arbeitet, und um allfällige Probleme zu lösen, bevor sie mit vulnerablen Patienten zu arbeiten beginnen. Wenn man Autofahren lernt, beginnt man in einer ruhigen Straße mit Unterstützung eines erfahren Fahrers. Niemand lernt Autofahren als Erstes auf der Autobahn!

In unseren Workshops ermutigen wir Fachpersonen stets dazu, in Übungssitzungen ihre eigenen persönlichen Erfahrungen von Leid oder Alltagsprobleme zu verwenden. Auf diese Weise können sie einen echten Eindruck gewinnen, wie das Gezeiten-Modell «funktioniert». Sie können allmählich einen Eindruck davon gewinnen, wie diese Erfahrung für den Patienten sein könnte....