Abbys großes Geheimnis

Abbys großes Geheimnis

von: Anne Fraser

CORA Verlag, 2020

ISBN: 9783733718145 , 130 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 2,49 EUR

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Abbys großes Geheimnis


 

1. KAPITEL

Abby ließ sich aufs Sofa sinken, während sie wie gebannt auf den Bildschirm starrte.

Die aktuellen Nachrichten zeigten einen Mann, der sich aus einem Hubschrauber der Royal Navy abseilte. Als die Gestalt im Sturmwind hin und her schwankte, hielt Abby den Atem an. Sie hatte den Fernseher eingeschaltet, um den Wetterbericht zu sehen, aber jetzt konnte sie den Blick nicht losreißen von den dramatischen Ereignissen, die sich vor ihren Augen abspielten.

Unter dem Helikopter trieb eine Jacht mit gefährlicher Schlagseite im Wasser.

„Die vierköpfige Familie befand sich auf einem Segeltörn, als sie vor der Küste von Cornwall in Seenot geriet“, berichtete die Reporterin. „Schwerer Seegang hat das Boot an die Felsen gedrückt, es läuft voll Wasser und droht zu sinken. Wir haben erfahren, dass der Steuermann nach einem heftigen Schlag gegen den Kopf bewusstlos ist. Seine Frau hat über Funk Hilfe gerufen. Sie und ihre Kinder sind noch an Bord.“

Ruhig, doch mit mühsam unterdrückter Anspannung fuhr sie fort: „Der Hubschrauberbesatzung bleibt nur wenig Zeit, um alle vier zu retten, bevor das Boot in den Fluten verschwindet. Auch ein Arzt des Royal Cornwall Air Ambulance Service ist an der Aktion beteiligt.“

Jetzt hatte der Mann am Seil das krängende Boot erreicht, hakte sich ab und schlitterte über das Deck. Minuten später wurde er an Bord des Hubschraubers gehievt, in jedem Arm eine kleine Gestalt, die sich fest an ihn klammerte.

Kurz darauf war er wieder unten, um eine dritte Person aus der lebensbedrohlichen Lage zu befreien. Abby beugte sich vor. Der verletzte Steuermann war immer noch an Bord. Konnte er gerettet werden, bevor das Schiff sank?

Das Meer schien zu kochen, dort wo die Rotorblätter das Wasser aufwirbelten. Ganz in der Nähe kämpfte sich ein Rettungsboot der Küstenwache durch die hohen Wellen, jedoch ohne Chance, an das havarierte Boot heranzukommen.

„Der Arzt wird auf die Jacht hinabgelassen“, verkündete die Reporterin.

Das Seil schwang wild hin und her, während der Pilot versuchte, seine Maschine in Position zu halten. Eine Welle hob das Boot an, doch dann tauchte es wieder ab. Die Gestalt am Seil pendelte nach rechts, dann nach links, während das Deck unter ihr wegsackte. Abby wusste, dass auch die Retter ihr Leben riskierten.

Jetzt hatte er es geschafft. Der Arzt stand an Deck, befreite sich rasch aus dem Geschirr, und das Seil wurde wieder hochgezogen. In der leuchtenden Jacke mit dem Namenszug der Luftrettung gut zu erkennen, tastete er sich an Deck vorwärts, verlor fast das Gleichgewicht auf dem heftig schwankenden Boot. Keine Minute später landete ein zweiter Mann mit einer Trage. Den ersten hatte Abby inzwischen aus den Augen verloren. War er über Bord gegangen?

Emma kam ins Zimmer. Als sie sah, wie Abby auf den Bildschirm starrte, nahm sie die Ohrstöpsel ihres MP3-Players heraus und setzte sich neben sie. „Musst du in deinem neuen Job auch so etwas machen?“, fragte sie.

„Bestimmt.“ Allerdings hoffte Abby inständig, dass sie nicht gerade an solchen spektakulären Aktionen teilnehmen musste. Es war etwas völlig anderes, sich bei ruhigem Wetter von einem Hubschrauber abzuseilen als dies hier.

Emma warf ihr einen bewundernden Blick zu. „Cool.“

Zum Glück schien ihre Tochter sich der Gefahr für die Männer nicht in vollem Umfang bewusst zu sein. Abby wollte nicht, dass Emma sich Sorgen um sie machte.

Was ihr wie Stunden vorkam, waren in Wirklichkeit nur wenige Minuten, dann wurde die Trage mit dem Verletzten mit der Winsch verbunden. Noch war die Situation jedoch kritisch. Die Jacht sank immer tiefer.

Schließlich hatte die Hubschrauberbesatzung Retter und Trage geborgen, und sobald sie sicher an Bord waren, drehte die Maschine ab. Sekunden später wurde das Boot von den aufgepeitschten Wellen verschluckt. Nur wenig früher, und es hätte die drei Männer mit sich gerissen.

„Mutter und Kinder stehen unter Schock und leiden an Unterkühlung“, vermeldete die Reporterin. „Sie werden im Krankenhaus behandelt. Über den Zustand des Familienvaters lässt sich nichts Genaues sagen, nur so viel, dass er stabil ist. Aber wir konnten zwei der Akteure, die an der dramatischen Rettungsaktion beteiligt waren, vor die Kamera holen.“

Für Emma war das Drama vorbei, sie stöpselte sich die Kopfhörer wieder in die Ohren und verließ das Zimmer. Abby wollte gerade umschalten, da schwenkte die Kamera auf zwei Männer. Der eine war um die fünfzig, gekleidet in einen Overall der Royal Navy, und der andere trug die signalfarbene Jacke eines Notarztes. Beide lächelten breit, so als hätten sie gerade etwas Erheiterndes erlebt, nicht gefährlicher als eine Routineübung.

Doch als die Kamera näher heranzoomte, machte Abbys Herz unwillkürlich einen Satz. Die Adlernase, das verwegene Lächeln des Jüngeren kamen ihr bekannt vor, trotz des Bartschattens, der Kinn und Wangen bedeckte. Bevor sie jedoch genauer hinsehen konnte, richtete sich die Kamera auf seinen Kollegen.

„Hier ist Sergeant Lightbody, der sich auf das havarierte Boot abgeseilt hatte“, erklärte die Reporterin. „Sergeant, können Sie unseren Zuschauern zu Hause vor den Bildschirmen beschreiben, wie Sie diese Rettungsaktion erlebt haben? Nach allem, was ich gesehen habe, konnten Sie die kleine Familie in letzter Sekunde vom Boot holen.“

Sergeant Lightbody schien nicht zu den Männern zu gehören, die gern im Rampenlicht standen. „Nun, es war ein bisschen windig dort draußen. Einer der schwierigsten Einsätze seit Langem.“

„Ein bisschen windig? Sie untertreiben sicher, Sergeant. Ohne Ihren beherzten Einsatz hätte der Ausflug für die vier Segler in einer Katastrophe enden können. Dass sie noch am Leben sind, verdanken sie ausschließlich dem Mut und der Erfahrung Ihres Teams.“

„Das ist unser Job“, brummte er, sichtlich unbehaglich bei so viel Aufmerksamkeit. „Außerdem ist es Dr. MacNeils Verdienst, dass wir den verletzten Skipper ohne weiteren Schaden bergen konnten.“

Die Kamera schwenkte zurück zu dem jüngeren Mann, und diesmal erkannte Abby ihn. Dazu brauchte sie ihn nicht einmal mit dem Foto zu vergleichen, das sie all die Jahre aufbewahrt hatte. Dr. MacNeil war Mac … der Geliebte ihrer toten Schwester und Emmas Vater!

Mit schwachen Beinen stand sie auf, nahm die Fernbedienung und drückte auf die Pause-Taste, um das Bild einzufrieren. Ja, er ist es wirklich, dachte sie aufgeregt, während sie das leicht verschwommene Gesicht betrachtete. Natürlich war er älter geworden, wie die feinen Linien am Mund und an den eisblauen Augen verrieten. Auch war er breiter, muskulöser, und sein Haar mit den sonnengebleichten Spitzen war viel kürzer. Doch das breite Lächeln und die übermütig blitzenden Augen hätte sie überall wiedererkannt.

Sie drückte auf die Taste, und die Sendung ging weiter.

„Dr. MacNeil, schildern Sie uns doch bitte Ihre Sicht der Ereignisse. Sie sind Notfallmediziner und arbeiten für die Royal Cornwall Air Ambulance. War das heute ein ganz normaler Arbeitstag für Sie?“

Abby hörte kaum hin. Sie hatte Mac gefunden! Und nicht nur das, sie würde auch mit ihm zusammenarbeiten! Mit zitternden Knien ließ sie sich wieder aufs Sofa sinken. Gut, dass Emma nicht mehr im Zimmer war, sie hätte bestimmt sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Abby wollte sich aber erst allein mit der Neuigkeit befassen.

Mac lächelte in die Kamera. Im Gegensatz zu Sergeant Lightbody wirkte er völlig entspannt. „Normal vielleicht nicht, aber wir von der Luftrettung schließen uns mit anderen Rettungsteams kurz, falls ein Notfall dies erfordert. Ein Arzt gleich vor Ort kann über Leben oder Tod entscheiden.“

„Selbst wenn es bedeutet, dass Sie Ihr Leben riskieren?“ Die hübsche Blondine konnte ihre Bewunderung nicht verbergen.

„Die Royal Navy wird schon dafür sorgen, dass mir nichts passiert“, erwiderte Mac leichthin. „Außerdem sind sie die echten Helden. Die Männer von der Marine machen das jeden Tag, und ohne den erfahrenen Piloten und sein Team hätten wir die Familie niemals in Sicherheit bringen können.“

Abby konnte immer noch nicht glauben, was sie mit eigenen Augen sah. Diesen Mann hatte sie vor Jahren verzweifelt gesucht, und nun war er hier, in Penhally Bay, und überdies ein zukünftiger Kollege!

Welch eine Ironie des Schicksals, dass sie ausgerechnet hierhergezogen waren, weil Emma keinen Vater hatte.

Vor wenigen Monaten, kurz vor Emmas elftem Geburtstag, hatte Abby sie gefragt, ob sie ihre Schulfreundinnen zu einer Party einladen wollte. Zu ihrem Entsetzen war Emma in Tränen ausgebrochen. Erst nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, gestand sie, dass sie in der Schule gehänselt wurde. Nur ihre beste Freundin hielt noch zu ihr.

„Aber warum, mein Schatz? Du hattest doch so viele Freunde.“

Die Tränen flossen von Neuem, und zwischen Schluchzern erzählte Emma, wie es angefangen hatte. Eins der Mädchen zog sie immer wieder damit auf, dass sie keinen Vater hatte.

„Ich hab ihr gesagt, dass ich natürlich einen Vater habe. Dann haben sie gefragt, wo er ist. Als ich sagte, ich weiß es nicht, haben sie sich über mich lustig gemacht. Dass ich entweder lüge oder eine schlechte Tochter sein muss, wenn mein Dad nichts von mir wissen will. Ich habe versucht, nicht auf sie zu hören, aber sie haben immer weitergemacht und scheußliche Sachen gesagt.“

Mit Tränen in den Augen blickte sie Abby an. „Ich weiß, dass du nicht meine Mutter bist, Mum.“ Als ihr auffiel, was sie da gesagt hatte,...