Versteck dich nicht vor der Liebe!

Versteck dich nicht vor der Liebe!

von: Marion Lennox

CORA Verlag, 2020

ISBN: 9783733718152 , 130 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 2,49 EUR

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Versteck dich nicht vor der Liebe!


 

1. KAPITEL

„Wenn Sie Ihr Kind mit Mantra-Singen und Delfinen retten wollen, die unsere Fische fressen, dann verschwenden Sie ruhig Ihr Geld. Im Delfinzentrum wird man für dumm verkauft, und Sie fallen direkt drauf rein.“

So etwas wollte Dr. Jack Kincaid nun gar nicht hören. Er warf einen Blick auf das blasse Kind auf dem Beifahrersitz und hoffte, dass Harry nichts mitbekommen hatte.

Das Gesicht des kleinen Jungen war ausdruckslos, wie immer. Seit dem Autounfall, bei dem seine Eltern ums Leben gekommen waren, hatte Harry kaum gesprochen.

„Das Delfinzentrum scheint aber einen guten Ruf zu haben.“ Etwas Besseres fiel Jack nicht ein. Er hätte lieber gar nicht erst angehalten, doch er musste tanken. Der dicke, schmuddelige Tankwart, der sich offensichtlich langweilte, war herausgekommen, um ein Schwätzchen zu halten.

Kein Wunder, dass er gelangweilt aussah. Auf dieser Straße fuhren wahrscheinlich kaum Autos entlang. Jack war knapp fünfhundert Kilometer von Perth entfernt und wollte zu einem der entlegensten Teile Australiens, zur Dolphin Bay.

Delfine. Heilung. Er dachte an die unzähligen kitschigen New-Age-Plakate, die er im Laufe der Jahre gesehen hatte, und ihm wurde beinahe übel.

Was tue ich hier eigentlich, fragte er sich.

„Ihr Kind ist also krank?“, meinte der Tankwart.

Jack drückte auf die Fernbedienung, und die Autofenster glitten lautlos hoch. Harry sollte nicht mithören.

Doch der Junge reagierte gar nicht. Er schien nicht einmal zu merken, dass er ausgeschlossen wurde. Er schien nie irgendetwas zu merken.

„Er ist vor einiger Zeit bei einem Unfall verletzt worden“, sagte Jack.

Die Benzinpumpe arbeitete unendlich langsam, und dieser Typ hatte es sich offenbar in den Kopf gesetzt, seinen Kunden einem Kreuzverhör zu unterziehen. Jack blieb also nichts anderes übrig, als es über sich ergehen zu lassen.

„Sie sind sein Dad?“, fragte der Mann.

„Sein Onkel“, antwortete Jack. „Seine Eltern wurden bei dem Unfall getötet.“

„Armer kleiner Kerl“, erwiderte der Tankwart. „Aber wieso bringen Sie ihn zur Dolphin Bay? Dort werden Sie doch bloß übers Ohr gehauen, Kumpel. Früher konnte man dort gut fischen, aber jetzt nicht mehr. Diese New-Age-Hippies haben sogar die Erlaubnis, die Delfine zu füttern, und locken sie damit extra an.“

„Wie lange werden sie dort schon zur Therapie eingesetzt?“, erkundigte sich Jack.

„Seit diese Frau, Dr. Kate, gekommen ist. Davor ging es nur um Delfinrettung. Der Ort ist voll von Tierschützern und Spinnern, die glauben, Meditation ist besser, als sich dem Leben zu stellen. Meiner Meinung nach ist nur ein toter Delfin ein guter Delfin“, erklärte der Dicke. „Wenn wir sie wenigstens erschießen dürften …“

Da der Tank endlich voll war, zog Jack erleichtert sein Portemonnaie heraus. „Das Wechselgeld können Sie behalten.“ Er wollte so schnell wie möglich weg von hier. „Kaufen Sie sich Fischköder davon.“

„Danke, Kumpel“, sagte der Mann. „Aber an Ihrer Stelle würde ich mich im Motel einbuchen und mit dem Jungen angeln gehen. Viel besser, als sich mit den Hippies abzugeben.“

„Ich würde auch lieber angeln gehen“, gestand Jack. „Aber ich habe keine Wahl.“

„Sie sehen aus wie ein Mann, der weiß, was er will. Was hält Sie also davon ab?“, entgegnete der Tankwart.

„Frauen“, meinte Jack. „Ist doch immer so, oder?“

Der Tod des vierjährigen Toby Linkler kam plötzlich. Es war herzzerreißend – und ein wunderbarer Segen.

Kate beobachtete Tobys Mutter Amy, die im seichten Wasser stand und ihren kleinen Sohn in den Armen hielt. Zusammen hatten sie zugeschaut, wie Hobble, der jüngste der ausgebildeten Delfine, seine Kreise um sie zog. Das Gesicht des kleinen Jungen, abgemagert von der Krankheit und monatelanger Chemotherapie, leuchtete auf, und er lachte sogar fast.

Dann, als Hobble untertauchte und Toby mit einem sanften Stups ein Stückchen aus dem Wasser hob, wandte sich Tobys Blick auf einmal nach innen.

Kate stand nur etwa eineinhalb Meter entfernt, und sie reagierte schnell. Aber als sie ihn erreichte, war der Kleine gestorben.

Tobys Mutter weinte, doch sie rührte sich nicht. Die Kreise des Delfins wurden weiter, als würde er sie abschirmen wollen. Kate fragte sich, wie viel das Tier wohl verstand. Niemand störte diesen Moment, auch nicht die anderen Delfine.

„Er … er ist tot“, brachte Amy schließlich unter Tränen hervor. „Oh, Toby. Die Ärzte haben gesagt, es könnte … Er könnte …“

Ja, mehrere Ärzte hatten Anfälle und einen plötzlichen Tod vorhergesagt. Kate hatte die Patientenakte sorgfältig studiert, so wie sie alle Unterlagen ihrer Patienten las. Vier Jahre alt. Gehirntumor. Unvollständige Entfernung vor einem Jahr. Durch die Chemotherapie war der Tumor etwas zurückgegangen, doch letztendlich war er stärker gewesen als die Behandlung.

Die letzte Eintragung lautete: „Bei dem aktuellen Tumorwachstum beträgt die Lebenserwartung nur noch wenige Wochen. Wir empfehlen Palliativversorgung nach Wunsch und überweisen zurück an den Hausarzt.“

Eine andere Mutter auf der Kinderkrebsstation hatte Amy von der Delfintherapie in Dolphin Bay erzählt. Und Kate war es trotz ihres vollen Terminkalenders gelungen, Toby und seine Mutter noch in das Therapieprogramm mit aufzunehmen.

Gott sei Dank, dachte sie jetzt. Den größten Teil der vergangenen Tage hatte Toby in seinem kleinen Neoprenanzug im Wasser bei den Delfinen verbracht, die ihn vollkommen verzaubert hatten.

Es gab vier Delfine, denen Kate diesen kleinen, zerbrechlichen Jungen anvertrauen konnte. Und alle vier hatten mit ihm gespielt. Sie hatten ihn zum Lachen gebracht, ihn angestupst, während er mit Schwimmflügeln auf dem Wasser paddelte. Die Delfine hatten Bälle hoch in die Luft geworfen, die dann dicht neben ihm landeten, und sie selbst zurückgeholt, wenn der Kleine nicht mehr konnte.

Natürlich hatte Toby auch weiterhin Medikamente einnehmen müssen. Aber sechs herrliche Tage lang war er einfach wieder ein kleiner Junge gewesen. Er hatte gelacht und Spaß gehabt, hatte Dinge erlebt, die nichts mit der Krankheit und den vielen Operationen zu tun hatten. Nachts hatte er zusammen mit Kates Therapiehund Maisie im Arm geschlafen. Mit seiner Mum an seiner Seite hatte er einen beinahe fröhlichen Eindruck gemacht.

Heute Morgen war er beim Aufwachen stiller und blasser gewesen, und seine Atmung flacher. Kate hatte gespürt, dass es bald zu Ende gehen würde.

Doch trotz seiner Schwäche hatte der kleine Junge eindeutig seinen Wunsch geäußert: „Ich möchte mit Hobble schwimmen.“

In den Armen seiner Mutter hatte Toby die glänzende, glatte Haut des Delfins fühlen können, als dieser ihn umkreiste.

„Er ist mein Freund“, hatte der Junge geflüstert.

Und jetzt war Toby gestorben.

Hier gab es keinen Platz für vergebliche Wiederbelebungsmaßnahmen, sondern nur den unendlichen Schmerz einer Mutter, die ihr Kind verloren hatte.

Dennoch, als ihr heftiges Weinen schließlich nachließ, flüsterte Amy erstickt: „Ich bin ja so froh. Ich bin so froh, dass ich ihn hergebracht habe. Oh, Kate, ich danke Ihnen.“

„Danken Sie nicht mir.“ Kate umarmte sie und führte sie sanft ans Ufer. „Danken Sie meinen Delfinen.“

„Dr. Kate wird sich ein bisschen verspäten“, meinte die freundliche Frau am Empfang in entschuldigendem Ton. „Es tut mir leid, Harry.“

Jack war überrascht. Die Frau sprach seinen Neffen an und nicht ihn.

„Das hier ist Maisie.“ Sie zeigte auf einen großen blonden Labrador-Retriever, der unter ihrem Schreibtisch döste. „Maisie, das ist Harry.“ Sie stieß die Hündin leicht mit dem Fuß an, woraufhin Maisie fragend aufschaute.

Ich? Meinst du mich?

„Maisie“, sagte die Rezeptionistin streng. „Sag Hallo zu Harry.“

Die Hündin rollte sich auf den Rücken, streckte sich ausgiebig und seufzte, ehe sie sich aufrappelte, durch das Zimmer trabte, sich vor Harry hinsetzte und die Pfote hob.

Der Junge starrte sie an. Geduldig blieb die Hündin in dieser Pose sitzen, bis Harry die erhobene Pfote schließlich vorsichtig ergriff. Erstaunt bemerkte Jack, dass sein kleiner Neffe fast ein Lächeln zustande brachte. Nicht ganz, aber fast.

Während Harry und Maisie sich ein zweites Mal Hand und Pfote schüttelten, wandte sich die Frau an ihn. „Dr. Kate ist im Wasser bei der Therapie. Aber sie wird sicher gleich fertig sein. Wollen Sie schon mal an den Strand runtergehen? Bitte stören Sie sie nicht, aber wenn Sie hinter der Hochwassermarke bleiben, dürfen Sie gerne zugucken.“

Er wollte sehr gerne zuschauen. Obwohl Harry vollkommen entspannt wirkte und dem großen Hund gerade zum dritten Mal die Pfote schüttelte, war Jack jedoch noch immer äußerst skeptisch.

Wieso bin ich überhaupt hier, fragte er sich erneut. Ihr Zuhause war in Sydney. Harry benötigte gute Physiotherapie, damit sein verletztes Bein heilte. Außerdem brauchte er einen hervorragenden Kinderpsychologen, der endlich seine Mauer des Schweigens durchbrechen konnte.

Obwohl Jack einige ausgezeichnete Kinderpsychologen für Harry ausfindig gemacht hatte, war es keinem von ihnen gelungen, den Jungen aus seinem Kummer herauszuholen. Das hier war Helens Idee gewesen, und sie hatte sich bereit erklärt, Harry in Jacks Obhut zu lassen, falls er ihn hierher brachte.

War es das Risiko...