Was ist Ihr Geheimnis, Dr. Benyon?

Was ist Ihr Geheimnis, Dr. Benyon?

von: Joanna Neil

CORA Verlag, 2020

ISBN: 9783733718138 , 130 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 2,49 EUR

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Was ist Ihr Geheimnis, Dr. Benyon?


 

1. KAPITEL

„Wie lange bleibst du hier?“, fragte eine Kinderstimme.

Megan blieb verwundert stehen und sah sich um. Woher kam die Stimme?

Eine Männerstimme murmelte eine Antwort.

Sie hatte nicht erwartet, hier an diesem abgelegenen Teil des Kanals jemanden zu treffen.

Nach der Hektik im Krankenhaus war sie froh, endlich abschalten und entspannen zu können. Sie hatte mit ihrer Freundin in einem kleinen Pub am Kanalufer gegessen, und nachdem Sarah für einen Sonntagsbesuch zu ihren Eltern gefahren war, schlenderte Megan an der Hecke, die den Pub abschirmte, entlang durch die Felder.

Die meisten Pubbesucher saßen im Freien auf hölzernen Sitzbänken, genossen die warme Maisonne und beobachteten die Boote, die zu den Schleusentoren schipperten.

„Malst du die Schwäne?“, meldete sich die kindliche Stimme erneut. „Ich mag Schwäne, aber Enten mag ich noch mehr.“

Wieder hörte Megan eine gedämpfte Männerstimme antworten. Diesmal näher. Sie folgte dem Weg durch eine Lücke in der Hecke. Auf der anderen Seite entdeckte sie eine idyllische Wiese am Kanalufer. Schafe weideten dort, und in der Ferne erstreckte sich, so weit das Auge reichte, ein atemberaubendes Panorama aus sanften Hügeln und Wäldern.

Nur ein paar Schritte von der Wasserkante entfernt saß ein Mann vor einer Staffelei. Er trug ein kurzärmeliges Hemd, dessen Kragen offen stand, und eine legere Hose. Megan schätzte ihn auf Anfang dreißig. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten und passte zu seinen kantigen Gesichtszügen.

„Ist das der Himmel?“ Ein kleiner Junge mit ebenso dunklem Haar deutete auf die Leinwand. Er schien etwa zehn Jahre alt zu sein.

„Genau, das ist der Himmel.“ Die Stimme des Mannes klang angenehm dunkel.

Das Kind sah nach oben. „Er ist blau. Warum ist der Himmel blau?“

„Weil wir ihn durch das Sonnenlicht so sehen.“

„Wirklich? Warum?“, fragte der Junge verwundert.

Der Mann tauchte einen Pinsel in seine Farbpalette und tupfte Weiß auf sein Bild. „Weil die Welt aus Farben besteht.“

„Warum?“

„Weil das so ist.“

Vielleicht ahnte der Junge, dass er keine andere Antwort bekommen würde, denn er ging ein Stück weg, setzte sich ans Ufer und betrachtete sein Spiegelbild.

Er drehte den Kopf hin und her, hob die Arme, wackelte mit den Fingern und begann zu kichern. „Meine Arme schlängeln sich“, rief der Junge. „Siehst du? Mein Gesicht auch.“

Megan erstarrte. Der Kleine saß viel zu nah am Rand.

„Tun sie das?“ Der Mann wischte seinen Pinsel an einem Tuch ab und schaute in die Box zu seinen Füßen.

„Warum schlängeln sie sich?“

Der Mann sah kurz auf. „Weil sich das Wasser bewegt“, antwortete er, bevor er aus der Box eine Farbtube holte und etwas Farbe auf seine Palette drückte.

Bemerkte er denn nicht, dass der Junge gefährlich nah am Wasser saß und leicht hineinfallen konnte?

Entschlossen ging Megan auf die beiden zu. Der Mann sah auf, aber sie ignorierte ihn und wandte sich an den Jungen, der jetzt durch das Gras hopste. Er stolperte kurz, fing sich aber im letzten Moment und breitete die Arme seitlich aus wie die Flügel eines Flugzeugs.

„Komm lieber weg vom Ufer“, sagte Megan leise und versuchte, den Jungen aufzufangen, der erneut schwankte. „Der Boden hier ist uneben. Du könntest ausrutschen.“

Das Kind runzelte die Stirn und sah ins Wasser. „Ist es denn sehr tief?“

„Das ist schwer zu sagen“, erklärte sie ihm, „aber ich möchte trotzdem nicht, dass du hineinfällst.“

Der Junge nickte und ging ein Stück zurück. Dann hob er Kieselsteine vom Pfad auf und warf einen nach dem anderen ins Wasser.

Zufrieden, dass das Kind nicht mehr in Gefahr schwebte, sah Megan zu dem Mann, der ruhig weitermalte.

„Ein wunderschönes Bild“, murmelte sie mit Blick auf die Leinwand. Er hatte die Landschaft in allen Einzelheiten eingefangen. Offensichtlich hatte er ein Talent dafür. „Aber sollten Sie Ihre Aufmerksamkeit nicht lieber etwas anderem zuwenden?“

Er sah sie unbekümmert an, bevor er sich wieder auf die Leinwand konzentrierte. „Und das wäre?“

Megan biss die Zähne zusammen. „Das Kind ist zu jung, um unbeaufsichtigt so nah am Kanal zu spielen.“

Flüchtig sah er zu dem Jungen. „Er scheint doch trittsicher zu sein.“

Sie hob eine Augenbraue und schüttelte über seine Antwort den Kopf. „Der Kleine ist zu nah am Wasser.“

Der Maler sah sich um und runzelte die Stirn. „Übertreiben Sie da nicht? Ich bezweifle, dass Kinder so leichtsinnig sind, wie Sie denken.“

Empört holte Megan Luft, ihre graublauen Augen blitzten ihn an. „Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen? Was, wenn er hineinfällt? Dann ist Ihr Bild bestimmt nicht mehr so wichtig.“

Der Mann drehte sich zu Megan um und betrachtete sie aufmerksam. Sein Blick glitt über ihr enges Baumwolloberteil und die Jeans, die ihre Hüfte umschmeichelte. Als er ihr endlich wieder ins Gesicht sah, wurde ihr heiß, und sie fühlte, wie sie leicht errötete.

„Da könnten Sie recht haben“, antwortete er trocken. „Dann müsste ich ihn herausfischen, und wir wären beide nass.“

Gereizt erwiderte Megan: „Das ist alles, was Ihnen Sorgen macht?“

Seine tiefblauen Augen wurden dunkler. „Nehmen Sie das nicht etwas zu ernst?“

„Zu ernst?“, wiederholte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Der Junge könnte ertrinken. Ich verstehe nicht, wie es Eltern so wenig interessieren kann, was ihre Kinder anstellen. Stört es Sie überhaupt nicht, dass er ausrutschen könnte?“

Er nickte. „Doch. Es wäre ausgesprochen unangenehm, wenn ich ihn wieder herausholen müsste. Aber vor allem beunruhigt mich, dass er überhaupt hier ist.“

„Ich verstehe nicht ganz.“

„Das glaube ich.“ Der Mann runzelte die Stirn. „Das ist nicht mein Kind. Ich dachte, er gehört zu Ihnen.“ Ironisch verzog er den Mund. „Jetzt muss ich wohl herausfinden, wer für ihn zuständig ist, wenn seine Eltern nicht bald auftauchen.“

Megan war sprachlos. Sie war überzeugt gewesen, dass der Junge zu dem Maler gehörte. Was musste er nur von ihr denken?

„Tut mir leid“, stammelte sie verlegen. „Weil Sie zusammen hier sind, dachte ich, er sei Ihr Sohn.“

„Ich kann mir vorstellen, wie Sie darauf kommen, aber ich frage mich auch, ob Ihre Instinkte nicht etwas überdreht sind. Sie sollten sich entspannen.“

Entspannen? Darin war er wohl Experte. Megan senkte den Kopf und biss die Zähne zusammen.

„Wie auch immer“, entgegnete sie nach einer Weile und straffte die Schultern. „Das Problem ist immer noch das Kind.“ Sie überlegte einen Moment. „Ob er vom Pub gekommen ist? Irgendjemand muss ihn doch vermissen.“

Der Maler zuckte mit den Schultern. „Wie Sie schon sagten, manche Leute interessiert es nicht, was ihre Kinder anstellen. Oder es gibt eine andere Erklärung dafür.“

In dem Moment kam ein junges Mädchen den Weg entlanggelaufen. „Nicky? Nicky, wo bist du?“

„Ach“, murmelte der Mann leise. „Vielleicht ist das unsere Antwort. Ich wusste doch, dass sich alles aufklärt, wenn wir lange genug warten.“ Er sah zu dem Jungen hinüber, der aufgehört hatte, Kieselsteine ins Wasser zu werfen, und sich zu dem Mädchen umdrehte. „Dann ist das hier wohl der kleine Nicky.“

Megan sah sie genau an. Sie konnte nicht älter als fünfzehn sein. Vielleicht seine Schwester?

„Nicky“, rief das Mädchen ärgerlich, „was tust du hier? Ich habe dich überall gesucht. Du sollst doch nicht weglaufen. Deine Mum macht sich schon Sorgen.“

„Wirklich?“, fragte Nicky unschuldig. „Warum denn?“

Das Mädchen seufzte verärgert. „Deinem Dad geht es nicht gut. Sie hat keine Zeit, dir hinterherzujagen. Jetzt komm.“

„Meinem Dad geht es gut“, widersprach der Kleine. „Er macht ein Picknick.“

„Aber jetzt fühlt er sich nicht wohl.“ Sie nahm den Jungen an die Hand und wandte sich an Megan. „Haben Sie vielleicht ein Handy dabei? Meine Tante hat versucht, einen Rettungswagen zu rufen, aber ihr Akku ist leer.“

„Ich bin Ärztin“, sagte Megan alarmiert. „Soll ich mitkommen? Vielleicht kann ich helfen. Ist es dein Onkel, dem es schlecht geht?“

„Ja, genau. Es wäre toll, wenn Sie mitkommen würden.“ Das Mädchen klang erleichtert. „Wir dachten, er erstickt, weil er nicht richtig sprechen konnte, und dann sah es aus, als hätte er einen Schlaganfall, weil er den Mund so komisch verzogen hat. Meine Tante wusste nicht, was sie tun sollte.“

Wenn die Frau nicht nach ihrem Kind suchte, musste es ernst sein. Kurz drehte sich Megan zu dem Maler um und fragte sich, ob er vielleicht mitkommen würde, um zu helfen. Doch er rührte sich nicht vom Fleck und wirkte sehr nachdenklich. Wahrscheinlich ist er ungehalten, weil sein ruhiger Nachmittag gestört worden ist, dachte sie, und kümmert sich nicht weiter darum. Verärgert über sein Verhalten ging sie davon.

Auf einer Wiese in der Nähe lag der Vater des Jungen im Schatten einer Hecke. Seine Frau öffnete ihm gerade ängstlich den Hemdkragen. Als Megan und das Mädchen näher kamen, blickte sie auf.

„Gott sei Dank, du hast ihn gefunden, Chloe!“, rief sie erleichtert. „Ich war so abgelenkt, dass ich nicht gemerkt habe, wie er weggelaufen ist.“

„Er war nicht weit weg, Tante Alice.“

Die Frau schluckte schwer....