Fratelli tutti - Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft

Fratelli tutti - Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft

von: Papst Franziskus

Patmos Verlag, 2020

ISBN: 9783843613149 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Fratelli tutti - Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft


 

Erstes Kapitel
DIE SCHATTEN EINER ABGESCHOTTETEN WELT


9 Ohne den Anspruch zu erheben, eine erschöpfende Analyse zu leisten oder alle Aspekte der Wirklichkeit, in der wir leben, zu berücksichtigen, möchte ich die Aufmerksamkeit nur auf einige Tendenzen der heutigen Welt lenken, welche die Entwicklung einer Geschwisterlichkeit aller Menschen behindern.

Träume, die platzen


10 Jahrzehntelang schien es, dass die Welt aus so vielen Kriegen und Katastrophen gelernt hätte und sich langsam auf verschiedene Formen der Integration hinbewegen würde. So ist zum Beispiel der Traum eines geeinten Europas vorangeschritten, der fähig war, die gemeinsamen Wurzeln anzuerkennen und sich zugleich über die in ihm wohnende Verschiedenheit zu freuen. Erinnern wir uns an »die feste Überzeugung der Gründungsväter der europäischen Union […], die sich eine Zukunft wünschten, die auf der Fähigkeit basiert, gemeinsam zu arbeiten, um die Teilungen zu überwinden und den Frieden und die Gemeinschaft unter allen Völkern des Kontinentes zu fördern«.7 Auch das Streben nach einer lateinamerikanischen Integration hat Fahrt aufgenommen und bereits einige Schritte gemacht. In anderen Ländern und Regionen gab es Bemühungen um Befriedung und Annäherung, die Früchte getragen haben; weitere schienen vielversprechend zu sein.

11 Doch die Geschichte liefert Indizien für einen Rückschritt. Unzeitgemäße Konflikte brechen aus, die man überwunden glaubte. Verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen leben wieder auf. In verschiedenen Ländern geht eine von gewissen Ideologien durchdrungene Idee des Volkes und der Nation mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens einher, die hinter einer vermeintlichen Verteidigung der nationalen Interessen versteckt werden. Das erinnert uns daran, dass »jede Generation sich die Kämpfe und die Errungenschaften der früheren Generationen zu eigen machen und sie zu noch höheren Zielen führen muss. Das ist der Weg. Das Gute, ebenso wie die Liebe, die Gerechtigkeit und die Solidarität erlangt man nicht ein für alle Male; sie müssen jeden Tag neu errungen werden. Unmöglich kann man sich mit dem zufriedengeben, was man in der Vergangenheit erreicht hat, und dabei verweilen, es zu genießen, als würden wir nicht merken, dass viele unserer Brüder und Schwestern unter Situationen der Ungerechtigkeit leiden, die uns alle angehen«.8

12 ›Offen sein zur Welt‹ ist ein Ausdruck, den sich die Wirtschaft und die Finanzwelt zu eigen gemacht haben. Er bezieht sich ausschließlich auf die Öffnung gegenüber den ausländischen Interessen oder auf die Freiheit der Wirtschaftsmächte, ohne Hindernisse und Schwierigkeiten in allen Ländern zu investieren. Die örtlichen Konflikte und das Desinteresse für das Allgemeinwohl werden von der globalen Wirtschaft instrumentalisiert, um ein einziges kulturelles Modell durchzusetzen. Eine solche Kultur eint die Welt, trennt aber die Menschen und die Nationen, denn »die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, aber nicht zu Geschwistern«.9 Wir sind einsamer denn je in dieser durch Vermassung gekennzeichneten Welt, welche die Einzelinteressen bevorzugt und die gemeinschaftliche Dimension der Existenz schwächt. Es gibt vor allem mehr Märkte, wo den Menschen die Rolle von Verbrauchern oder Zuschauern zukommt. Das Fortschreiten dieses Globalismus begünstigt normalerweise die stärkeren Gebiete, die sich selbst behaupten, sucht aber die schwächsten und ärmsten Regionen zu beeinträchtigen, indem es sie verwundbarer und abhängiger macht. Auf diese Weise wird die Politik gegenüber den multinationalen wirtschaftlichen Mächten, die das ›Teile und herrsche‹ anwenden, immer zerbrechlicher.

Das Ende des Geschichtsbewusstseins


13 Aus dem gleichen Grund wird ein Verlust des Geschichtsbewusstseins gefördert, das eine weitere Auflösung hervorruft. Man nimmt das Vordringen einer Art von ›Dekonstruktivismus‹ in der Kultur wahr, bei dem die menschliche Freiheit vorgibt, alles von Neuem aufzubauen. Aufrecht bleibt nur das Bedürfnis, grenzenlos zu konsumieren, und das Hervorkehren vieler Formen eines inhaltslosen Individualismus. In diesem Zusammenhang ist ein Rat angebracht, den ich einmal Jugendlichen gegeben habe: »Wenn jemand euch ein Angebot macht und euch sagt, ihr braucht die Geschichte nicht zu beachten, den Erfahrungsschatz der Alten nicht zu beherzigen und ihr könnt all das missachten, was Vergangenheit ist, und sollt nur auf die Zukunft schauen, die er euch bietet, wäre dies nicht eine einfache Art, euch mit seinem Angebot anzuziehen, um euch nur das tun zu lassen, was er euch sagt? Dieser Jemand benötigt euch leer, entwurzelt, gegenüber allem misstrauisch, damit ihr nur seinen Versprechen vertraut und euch seinen Plänen unterwerft. So funktionieren die Ideologien verschiedener Couleur, die all das zerstören – oder abbauen –, was anders ist; auf diese Weise können sie ohne Widerstände herrschen. Zu diesem Zweck brauchen sie junge Menschen, die die Geschichte verachten, die den geistlichen und menschlichen Reichtum ablehnen, der über die Generationen weitergegeben wurde, und die all das nicht kennen, was ihnen vorausgegangen ist«.10

14 Das sind die neuen Formen einer kulturellen Kolonisation. Wir wollen nicht vergessen, dass »die Völker, die ihre eigene Tradition veräußern und aus einem Nachahmungswahn, einer aufgezwungenen Gewalt, einer unverzeihlichen Nachlässigkeit oder einer Apathie dulden, dass ihnen die Seele entrissen wird, neben ihrer geistlichen Physiognomie auch ihre moralische Festigkeit und schließlich ihre weltanschauliche, wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit verlieren«.11 Eine wirksame Weise, das geschichtliche Bewusstsein, das kritische Denken, den Einsatz für die Gerechtigkeit und die Kurse zur Integration aufzulösen, sind die Sinnentleerung oder die Änderung großer Wörter. Was bedeuten heute einige dieser Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Einheit? Sie sind manipuliert und verzerrt worden, um sie als Herrschaftsinstrumente zu benutzen, als sinnentleerte Aufschriften, die zur Rechtfertigung jedweden Tuns dienen können.

Ohne einen Plan für alle


15 Die beste Methode, zu herrschen und uneingeschränkt voranzuschreiten, besteht darin, Hoffnungslosigkeit auszusäen und ständiges Misstrauen zu wecken, selbst wenn sie sich mit der Verteidigung einiger Werte tarnt. Heute verwendet man in vielen Ländern den politischen Mechanismus des Aufstachelns, Verhärtens und Polarisierens. Auf verschiedene Art und Weise spricht man anderen das Recht auf Existenz und eigenes Denken ab. Zu diesem Zweck bedient man sich der Strategie des Lächerlich-Machens, des Schürens von Verdächtigungen ihnen gegenüber, des Einkreisens. Man nimmt ihre Sicht der Wahrheit und ihre Werte nicht an. Auf diese Weise verarmt die Gesellschaft und reduziert sich auf die Selbstherrlichkeit des Stärksten. Die Politik ist daher nicht mehr eine gesunde Diskussion über langfristige Vorhaben für die Entwicklung aller und zum Gemeinwohl, sondern bietet nur noch flüchtige Rezepte der Vermarktung, die in der Zerstörung des anderen ihr wirkungsvollstes Mittel finden. In diesem primitiven Spiel der Abqualifizierungen wird die Debatte manipuliert, um die Menschen ständig infrage zu stellen und auf Konfrontation mit ihnen zu gehen.

16 Wie ist es bei einem solchen Zusammenstoß der Interessen, der alle gegen alle aufbringt und wo siegen zu einem Synonym für zerstören wird, noch möglich, das Haupt zu erheben, um den Nachbarn wahrzunehmen oder jemandem beizustehen, der auf der Straße hingefallen ist? Ein Plan mit großen Zielen für die Entwicklung der Menschheit klingt heute wie eine Verrücktheit. Es vergrößern sich die Abstände zwischen uns, und der harte und schleppende Weg zu einer geeinten und gerechteren Welt erleidet einen neuen und drastischen Rückschlag.

17 Sorge tragen für die Welt, die uns umgibt und uns erhält, bedeutet Sorge tragen für uns selbst. Wir müssen uns aber zusammenschließen in einem ›Wir‹, welches das gemeinsame Haus bewohnt. Dieses Bemühen interessiert die wirtschaftlichen Mächte nicht, die schnelle Erträge brauchen. Oft werden die Stimmen, die sich zur Verteidigung der Umwelt erheben, zum Schweigen gebracht oder der Lächerlichkeit preisgegeben und andererseits Partikularinteressen mit dem Mantel der Vernünftigkeit umhüllt. In dieser Kultur, die wir gerade aufbauen – leer, auf das Unmittelbare gerichtet und ohne einen gemeinsamen Plan –, ist es »vorhersehbar, dass angesichts der Erschöpfung einiger Ressourcen eine Situation entsteht, die neue Kriege begünstigt, die als eine Geltendmachung edler Ansprüche getarnt werden«.12

Der Ausschuss der Welt


18 Teile der Menschheit scheinen geopfert werden zu können zugunsten einer bevorzugten Bevölkerungsgruppe, die für würdig gehalten wird, ein Leben ohne Einschränkungen zu führen. Im Grunde werden die Menschen »nicht mehr als ein vorrangiger, zu respektierender und zu schützender Wert empfunden, besonders, wenn sie arm sind oder eine Behinderung haben, wenn sie – wie die Ungeborenen – ›noch nicht nützlich sind‹ oder – wie die Alten – ›nicht mehr nützlich sind‹. Wir sind unsensibel geworden gegenüber jeder Form von Verschwendung, angefangen bei jener der Nahrungsmittel, die zu den verwerflichsten...