Gewicht HALBIERT!

Gewicht HALBIERT!

von: Tanja Kaiser

epubli, 2020

ISBN: 9783753111018 , 263 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Gewicht HALBIERT!


 

KAPITEL 2
DIÄT, SPORT & CO. ICH HABE ALLES MIT­GEMACHT


2.1. ÜBER 100 DIÄTEN IN 40 JAHREN. INKLUSIVE PRALINEN-DIÄT – GIBTS WIRKLICH


Wir sind in den 80er Jahren und ich lebe in Nürnberg. Mein Studium habe ich mit Diplom abgeschlossen und mir selbst wieder mal bewiesen, dass ich nicht dumm bin. Dumm komme ich mir nämlich vor, wenn es um mein Gewicht geht. Ich hab so viel geschafft; bloß, wenn es ums Essen geht, krieg ich einfach nicht die Kurve.

Ich brauche Hilfe und es fällt mir sooo schwer, mir das einzugestehen. Aber es muss sein, weil ich schon wieder zugenommen habe. Eine Freundin meiner Mutter hatte prophezeit, dass ich beim Studieren abnehmen werde. Sie sagte, dass man als Studentin mal einen Apfel isst und das Mittagessen weglässt. Ach ja?

Ich wog mit Diplom 15 Kilo mehr als vorher. Einfach einen Apfel essen? Bei mir gab es Frühstück, Mittag­essen, Abendbrot, diverse Snacks zwischendurch und zu jedem Essen, ja, auch schon zum Frühstück, gönnte ich mir einen Nachtisch. Wenn es einen Apfel gab, war er bestimmt im Apfelkuchen unter viel Sahne begraben. Ihre Aussagen trafen auf mich nicht zu.

Lange habe ich gebraucht für diese Entscheidung, aber irgendwann war es soweit:

Ich gebe zu, dass ich nicht alleine klar komme. Ich hole mir Hilfe, ich gehe zu den Weight Watchers.

Mein erster Termin ist eine Woche vor Heilig Abend. Außer mir ist niemand Neues in der Gruppe. Wer fängt denn schon direkt vor den Feiertagen an mit Ab­nehmen? Ich! Ich wollte es jetzt wissen. Das Treffen findet im Kirchengemeindehaus statt, im Keller hinten links. Es ist so gemütlich dort wie diese Beschreibung klingt. Da stehen vier Stuhlreihen links und rechts eines schmalen Ganges mit jeweils vier Stühlen, vorne die „Lehrerin“ mit einer Tafel. Sie wird erst später an die Tafel gehen, vorher sitzt sie an einem kleinen Tisch neben einer großen Waage direkt am Eingang. Der Anfang ist ein Grauen – ich hätte nie gedacht, dass es so schlimm werden kann.

Bevor man sich setzen darf, muss man bezahlen und dann geht’s auf die Waage. Ja, die Demütigung gibt es nicht umsonst. Es wird billiger, wenn man öfter kommt und ich zahle gleich für mehrere Treffen im Voraus. Belustigt sehe ich zu, wie eine Frau vor mir ihre Handtasche abstellt, den Mantel auszieht, Arm­banduhr, Ohrringe und Halskette abnimmt und aus den Schuhen schlüpft, bevor sie auf die Waage steigt. Nur drei Wochen später mache ich es genauso – ich weiß nun genau, wieviel Armbanduhr, Schuhe und Schmuck wiegen können.

In meiner Gruppe sind wir sehr gemischt; klar, mehr Frauen als Männer, aber nicht nur Frauen. Vom Alter her zwischen 17 und 70. Ich bin 35 und fürchte mich davor, dieses doofe Gewichtsproblem mit 70 immer noch zu haben. Was macht die alte Frau hier? Ist Ab­nehmen so schwer? Mir schießen tausend Fragen durch den Kopf, alles in mir will weglaufen, aber ich schaffe es, auf das leise Stimmchen zu hören, das sagt: Hör es dir wenigstens einmal an. Alle sind nett zu der Neuen, zu mir. Ich bin etwas Besonderes, weil ich direkt vor Weihnachten anfange. Gleich in der ersten Stunde geht’s zur Sache. Warum bist du hier? Ja, warum bin ich da?

Ich war ja letztes Mal schon da, bin aber nicht rein­gegangen. Das erzähle ich heute. Noch auf dem Keller-Gang in der Kirchengemeinde bin ich drei Meter vor der geschlossenen Tür mit der Aufschrift „Weight Watchers Gruppe“ wieder umgekehrt. Ich konnte und wollte mir nicht eingestehen, dass ich das Problem mit meinem Gewicht nicht alleine bewältigen kann.

Mit 14 hab ich einen Segelflugschein gemacht, mit 15 bin ich für ein Jahr Schüleraustausch alleine nach Kalifornien gereist. Ich habe meinen Führerschein im Sauerland im Winter bestanden, bei Schnee und Glatt­eis. Mein Studium habe ich erfolgreich mit Diplom beendet und direkt danach auch einen gut bezahlten Job gefunden. Ich lebte in einer festen Beziehung und bis auf mein Gewicht war mein Leben ein Erfolgs­modell.

Mir einzugestehen, dass ich Hilfe brauchte, Hilfe von jemandem, der vielleicht nicht so studiert und gut aus­gebildet ist wie ich, dazu konnte ich mich einfach nicht überwinden. Ich war eingebildet und feige – eine blöde Kombination, wenn man Hilfe braucht. Eine Woche später stand ich wieder im dem Kellergang, aber dieses Mal öffnete ich die Tür und betrat den Raum. Alle hatten sie Verständnis für mein Zögern. Ich bin sehr lieb aufgenommen worden – es war eine dicke Gemeinschaft im wahrsten Sinne des Wortes – ge­meinsames Leiden schweißt zusammen.

Heute, 21 Jahre später, kann ich sagen, dass es eine gute Entscheidung war. Nicht, weil ich mein Gewichtsproblem gelöst habe, aber ich habe auf meinem Weg wichtige Erkenntnisse gewonnen, die mir helfen werden, mein Abnehmleben erfolgreich zu meistern.

Zurück zu dem Tisch mit der Waage. Es war jedes Mal wieder spannend. Woche für Woche musste sich unsere Gruppenleiterin die gleichen Ausreden an­hören, warum es dieses Mal wieder nicht geklappt hatte: das Kind hatte Geburtstag, es war Silberhoch­zeit, der Job war so stressig, dass man sich an nichts halten konnte, eine Frau schwor, sie habe immer Ver­stopfung, wenn sich der Montagabend nähert und würde Dienstags oder Mittwochs garantiert weniger wiegen. Da sie das fast jede Woche sagte, war es kein sehr schlagendes Argument.

In Woche 2 war das erste Kilo weg. Alle freuten sich und ich war frustriert. Ich hatte mich so gequält, mich an alles gehalten und keine Ausnahme gemacht. Jede Minute hatte ich mich an die WW-Regeln gehalten und der Anfang sollte doch schnell gehen? Einen Monat vor mir hat ein Mann angefangen. Ok, er war noch dicker und Männer nehmen immer schneller ab. Das wusste ich aber nicht. Er hat sage und schreibe 6 Kilo verloren in nur sieben Tagen und ich lediglich 1 Kilo.

So konnte ich mir leicht ausrechnen, dass ich 1,5 Jahre jeden Montagabend in diesem Keller-Besprechungs­zimmer sitzen würde. Aber die Leiterin hat das toll auf­gefangen. Sie hat mich beglückwünscht zu dem ersten Kilo, hat ein richtiges Event daraus gemacht. Ihr Lob und der Ausblick auf ein leichtes Leben haben mich bei der Stange gehalten. Gefährlich waren für mich zum Beispiel Bratwürste, aber das wusste ich vorher nicht. In Nürnberg gibt es überall in der Stadt kleine Grill-Stände, wo der Snack angeboten wird. Da wird gar nicht drüber nachgedacht, das ist normal, dass man die isst. 3 im Weckla (das ist fränkisch und heißt 3 kleine Bratwürste im Brötchen) – das ist keine große Portion, das geht so im Vorbeigehen. Als ich erfahre, dass dieser kleine Snack bereits zwei Drittel meiner Tageskalorien enthält, bin ich geschockt. Ich hätte mir ein Schild gewünscht: Verzehr macht fett!

Es gibt weitere böse Überraschungen. Käse ist eine Fettbombe. Ein französischer Käseteller zum Dessert hat mehr Kalorien und Fett als meine Tagesration bei Weight Watchers. Die Weintrauben auf dem Käse­teller dazu reißen es dann auch nicht mehr raus. Aber ich bin ja lernwillig – ich sauge diese Informationen auf wie ein Schwamm, rufe sogar meine Käse-lieben­den Eltern an und frage sie entsetzt: Habt ihr das gewusst?

Mit so viel neuen Informationen ändere ich meine Ernährung gründlich. Zu der Zeit, als ich erstmals bei den Weight Watchers war, war Obst „grün“. Das bedeutete, dass man so viel Obst essen konnte, wie man wollte, ohne dass es bei der Punktezählerei an­gerechnet werden musste. Ich weiß heute noch, dass ich gelbe Finger hatte, weil ich vier, fünf oder sogar sechs frische Orangen gegessen habe, wenn ich nach dem Abendessen noch Hunger hatte. Das war in der ersten Woche jeden Tag so. Die Regel ist längst ge­fallen. Das konnte sich wohl ein Lebensmittel-Chemiker nicht vorstellen, was Dicke mit der Aussage „Obst ist grün“ anstellen würden. Mittlerweile werden natürlich die Kalorien und Fruchtzuckergehalte von Obst mit einkalkuliert im Gesamtplan.

Ich änderte viel an meinem Essen. Zuerst verschenkte ich die Vorräte aus meiner Küche, die den neuen Ansprüchen nicht mehr gerecht wurden. Immer kannte ich irgendjemanden, der sich freute über Nudeln, H-Sahne, Süßigkeiten, Kekse, Ketchup, süße Chilisauce, Nutella und Salami.

Auch die geliebten Bratwürste ließ ich weg. Ich pro­bierte erst die Alternative „Putenwürste statt Schweinewürstchen“, aber schnell lernte ich, dass ich besser Berge von Gemüse essen konnte anstatt einer kleinen Portion Fleisch. Limonade und Schorle gab es auch nicht mehr. Die wenigen Kalorien, die mir zu­standen, wollte ich lieber essen als trinken.

Ein halbes Jahr lang war ich eine Vorzeige-Kandidatin. Ich hielt mich an alle Regeln, kaufte alle Bücher und sonstige Angebote, die uns die Gruppenleiterin vor­stellte und nahm ab. In einem halben Jahr immerhin 18 Kilo – das Gewicht aus meiner Studentenzeit war also wieder weg. Zu der Zeit lebte ich die Weight Watchers Philosophie. Ich kannte von allen Nahrungs­mitteln die Punktezahl, nicht nur von Obst und Gemüse, nein, auch von Fertigsoßen, Süßigkeiten und Fast Food. Es gibt Tabellen, in denen die genauen Werte der Produkte großer Fastfoodketten aufgelistet sind. Auch die wusste ich auswendig. Zu der Zeit hättest du mich nachts wecken können und direkt aus dem Tiefschlaf gerissen wusste ich: Heute hab ich 22 Punkte gegessen, drei darf ich noch. Die hebe ich auf für morgen.

Meine WW-Gruppe traf sich montags. Abends um 19.30 Uhr. Das bedeutete, dass mein Wochenende nicht sehr entspannt war, weil ich montags auf die Waage musste. Früher habe ich es geliebt, am Sonntag zum Brunch ins Flughafen-Hotel zu gehen, jetzt gehe ich Montagabend nach dem Gruppentermin in eine kleine Pizzeria. Das machen wir...