Die Uhrmacherin - Tage voller Geheimnisse - Roman

Die Uhrmacherin - Tage voller Geheimnisse - Roman

von: Claudia Dahinden

Penguin Verlag, 2023

ISBN: 9783641307479 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Die Uhrmacherin - Tage voller Geheimnisse - Roman


 

1


Im Bemühen, sich die Vorfreude auf den sicheren Triumph nicht anmerken zu lassen, griff Sarah nach ihrem Läufer und kassierte frohlockend Gideons Schimmel. Das blütenweiße Ross hatte sich auch so verführerisch von seinem schwarzen Quader abgehoben! Wie immer hatte Gideon als Hüter des Gesetzes die Farbe des Lichts für sich beansprucht; die einzig richtige Wahl, wie er zu betonen pflegte. Zum Glück war er daran gewöhnt, dass Weiß nicht immer den Sieg davontrug.

Durch das offene Fenster drangen Getrampel und Kinderlachen. Erstmals in diesem Frühling war es richtig warm, und die Kinder, die über die langen Wintermonate nach Sonne und Wärme gehungert hatten, spielten fröhlich Fangen auf den Straßen. Ein leichter Wind trug den Duft von Kuchen und Kaffee ins Esszimmer, und die Frühlingssonne warf helle Flecken auf das schwarz-weiße Brett und die reich­lichen Opfer von Sarahs Attacken auf Gideons Krieger des Lichts.

Zufrieden stellte sie das erstrittene Ross in ihre kleine Sammlung und blickte auffordernd zu Gideon, doch seine Miene verriet nichts. Gelassenheit lag darin und ein Hauch froher Erwartung. Aber er war auf dem Holzweg, wenn er glaubte …

Gideon griff nach seinem Turm, der – und nun erkannte sie das Problem – plötzlich frei stand, weil sie ihren Läufer verschoben hatte, zog ihn über das Brett und direkt auf ihre Königin zu. Sarah entfuhr ein erstickter Ausruf, und ihre Hand schnellte nach vorn.

»Zu spät, meine Liebe.«

Erbarmungslos schnappte er sich ihre Königin, lehnte sich zurück und schenkte ihr ein maliziöses Lächeln, das ihre ­siegesgewohnte Seele bis ins Mark traf.

»Das glaube ich nicht!«

»Ich auch nicht, aber wie heißt es so schön? ›Auch ein blindes Huhn …‹«

»In diesem Fall ein Gockel. Aber freu dich nicht zu früh; so schnell gebe ich nicht auf.«

Entschlossen beugte Sarah sich wieder über das Brett. Die Schlacht wogte erneut, doch ihren verbissenen Bemühungen zum Trotz war der Verlust der Königin kaum wettzumachen. Die Kontrolle über das Spiel war ihr entglitten, und Gideon dachte gar nicht daran, sich den erstrittenen Vorteil wieder nehmen zu lassen. Nach einer weiteren Viertelstunde war der Kampf vorbei und Sarah geschlagen.

Mit einem Seufzen erhob sie sich. »Lass uns Kaffee trinken, nicht zu vergessen: Kuchen essen! Ich brauche mindestens zwei Stück, um diese Schmach zu verkraften.«

»Du tust so, als sei es besonders demütigend, gegen mich zu verlieren«, erwiderte Gideon. »Ich hoffe, dir ist klar, dass ich das als persönlichen Affront und Beleidigung eines Landjägers ansehe.«

Bemüht ernst blickte er sie an, aber seine Mundwinkel zuckten.

»Das ist es in der Tat. Allerdings empfinde ich es als größere Schmach, dass ich dumm genug war, mich von deinem aufreizend zur Schau gestellten Gaul hinreißen zu lassen. Ich hätte wissen müssen, dass du mit deiner schwierigen Beziehung zu diesen Tieren ohne viel Aufhebens eins von ihnen opfern würdest.«

»Um an eine Königin zu kommen, würde ich einiges mehr opfern. Aber genug davon; ich freue mich auf den Siegestrunk!«

Sie begaben sich ins Wohnzimmer, wo Rosa erwartungsvoll in ihrem Fauteuil saß und den Blick von Sarah zu Gideon gleiten ließ.

»Ich brauche nicht zu fragen, wer gewonnen hat. Sarahs Miene spricht Bände! Hier, Kind, nimm ein Stück Kuchen.«

Sarah griff nach dem großzügig bemessenen Stück Marmor­gugelhopf und setzte sich auf das Sofa, während Gideon sich in den gegenüberliegenden Sessel fallen ließ.

»Einen Träsch zum Sieg, Herr Korporal?«, fragte Sarah trocken.

»Nein, danke, der Sieg ist berauschend genug.« Gideon hob die Tasse, die Rosa ihm hingestellt hatte.

Auch Sarah griff nach ihrer Tasse. »Wie war die Woche für die Landjägerei?«

»Ich sehe, du willst das Thema wechseln und von deiner Niederlage ablenken. So sei es denn: Sie war beruhigend langweilig.«

»›Beruhigend langweilig?‹ Das sind ganz neue Töne.«

»Die letzten paar Monate waren aufregend genug«, entgegnete Gideon kurz.

»Du hast recht«, antworte Sarah rasch. Ein Anflug schlechten Gewissens und Ärger über sich selbst stiegen in ihr hoch. Manchmal redete sie, ohne nachzudenken. Auch sie war froh, dass nach den Angelegenheiten auf Breidenstein Ruhe eingekehrt war, und bei Gideon hatte der Fall tiefe Wunden hinterlassen.

»In der Werkstatt ist es recht ruhig«, fuhr sie fort. »Lehrmeister Flury hält sich mit neuen Aufgaben vor unserer Stage in Luzern zurück.«

»Wann reist du ab?«

»Nächsten Samstag. Ich freue mich sehr auf Uhrmacher Wernli und auf das, was wir von ihm lernen können!«

»Und auf Luzern, nehme ich an. Du hast nicht oft Gelegenheit, nach Hause zu fahren.«

»Mein Zuhause ist hier«, erwiderte Sarah fest. »Aber ja, ich freue mich auf die Familie und auf Luzern. Wobei ...«

»Sicher beschäftigt dich die Sache mit Hannes. Du hast mir noch gar nicht gesagt, was dein Vater geschrieben hat.«

»Er hat geschrieben, dass Hannes’ Vater einen Umschlag erhalten hat; darin waren, glaube ich, eine verkohlte Blume und ein Bild der Muttergottes. Irgendwie unheimlich.« Sie schauderte. »Vor allem sollen solche Umschläge auch nach den sogenannten Katholikenmorden an die Angehörigen verschickt worden sein, deshalb spekuliert die Polizei über eine Verbindung zwischen den Fällen.« Sie biss in ihr Kuchenstück und kaute bedächtig. »Es bedrückt mich schon«, fuhr sie fort. »Dass niemand etwas Persönliches gegen Hannes haben kann, war mir immer klar. Aber dass er als Katholik und wegen seiner Konfession ermordet wurde, ergibt keinen Sinn. Er war kein Würdenträger; nur ein junger Lehrer, der sich ein Leben aufbauen wollte – mit mir.«

Sarah presste die Lippen zusammen und drängte die Tränen zurück. So ging es ihr öfter, seit sie vor zwei Wochen Vaters Telegramm erhalten hatte. Die neue Entwicklung riss die Wunde, die Hannes’ Tod geschlagen hatte und die in den letzten zwei Jahren langsam verheilt war, wieder auf, und sosehr sie sich auch anstrengte, sie im Zaum zu halten, war sie doch machtlos gegen die in ihr rumorenden Gefühle.

»Das ist sicher nicht leicht. Was hältst du davon, wenn ich mich in Luzern erkundige? Wir haben ein gutes Einvernehmen mit den Polizeikorps, die zum Bistum gehören. Vielleicht kann ich mehr erfahren.«

»Das wäre wunderbar!«

»Mache ich gern.« Gideon warf einen Blick auf die Wanduhr. »Aber jetzt muss ich weiter. Mutter erwartet mich zum Abendessen.«

»Sieg beim Schach, Kaffee und Kuchen und dann noch ein Abendessen bei Muttern? Dich verwöhnt heute das Schicksal!«

»Du hast den Vorzug deiner Gesellschaft vergessen«, erwiderte Gideon lächelnd.

»Das war Absicht. So bleibe ich das bescheidene, zurückhaltende Fräulein, das sich all seiner Vorzüge nicht bewusst ist.«

»›Bescheiden‹ ist schon gewagt, aber ›zurückhaltend‹? Das klingt gar nicht nach dir.«

»Ich glaube, du hast die Gunst der Stunde ausgereizt.« Sarah erhob sich und geleitete Gideon hinaus. »Aber wenn du mir Nachrichten aus dem Luzernischen bringst, bin ich vielleicht bereit, dir zu vergeben.«

»Dann werde ich das tun.«

Sie traten an den Rand der Leberbergstraße, die an diesem schönen, aber frischen März-Sonntag nicht stark befahren war.

»Gehst du zu Fuß?«, fragte Sarah.

»Nein, heute nehme ich ausnahmsweise den Zug.« Er nickte Sarah und Rosa zu und machte sich in Richtung Bahnhof davon.

»Der Mann ist eine Nummer für sich«, meinte Rosa, die Hände in die Hüften gestemmt. »In meiner Jugend hätten sich Galane solche Töne nicht erlaubt!«

»Galane nicht, Freunde schon«, erwiderte Sarah.

»Wenn du meinst!«

»Ich meine.«

Zusammen traten sie wieder in die Wohnung, aber nicht bevor Sarah einen letzten Blick auf den entschwindenden Gideon geworfen hatte. Sosehr sie sich auf Luzern freute: Die Schachspiele und das freundliche Geplänkel mit Gideon würde sie ebenso vermissen wie ganz Grenchen. Sie hatte hier Wurzeln geschlagen und sich mit Rosa, Pauline, Adolf und Marie einen Kreis an Freunden aufgebaut, der noch wichtiger geworden war, seit sich die Beziehung zu Paul zerschlagen hatte. Wie würde es sich anfühlen, sich wieder länger in ihrer alten Heimat aufzuhalten? Wie würden ihre Eltern damit umgehen, sie als Uhrmacherin zu erleben?

Dennoch überwog die Freude. Außerdem würde sie nicht allein gehen müssen: Fabrice würde mit ihr kommen. Sie lächelte bei dem Gedanken. Wenn ihr jemand vor ein paar Monaten gesagt hätte, dass sie sich darüber freuen würde, hätte sie ihm nicht geglaubt, sondern befürchtet, dass ihr Lehrlingskollege ihr in der Sonne stehen würde. Inzwischen hatten sie beide gelernt, sich gegenseitig zu unterstützen und nicht als Konkurrenz zu sehen. Zusammen würden sie auch diese Hürde meistern. Und bevor es losging, gab Pauline noch ein Abschiedsfest für sie. Was konnte man sich mehr wünschen? Danach, da war sie gewiss, wäre sie allem gewachsen.

»Dieses Mal musst du uns häufiger schreiben.« Pauline klopfte der kleinen Hedwig auf den Rücken. »Sonst vergisst du uns noch!«

»Wie könnte ich euch vergessen?«, erwiderte Sarah. »Und ihr müsst versprechen, mir zu schreiben. In vier Wochen kann sogar in Grenchen viel passieren!«

»Das machen wir.« Marie streckte die Hände aus. »Gib mir die Kleine, Pauline. Du kommst gar nicht dazu, etwas zu ­trinken.«

Dankbar legte Pauline der Freundin das Kind in...