Die Toten von Königsberg - Ein Fall für Aaron Singer - Kriminalroman

Die Toten von Königsberg - Ein Fall für Aaron Singer - Kriminalroman

von: Ralf Thiesen

Goldmann, 2023

ISBN: 9783641284503 , 528 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die Toten von Königsberg - Ein Fall für Aaron Singer - Kriminalroman


 


Königsberg, 13. März 1924 

Edward Mayrhöfer saß neben seinem Vater im Fond des Dürkopp, der von ihrem Chauffeur sicher durch die Straßen der Königsberger Altstadt gelenkt wurde. Edward spürte die Aktenmappe auf seinem Schoß. Heute würde es auf ihn ankommen, zum ersten Mal, und er war fest entschlossen, die große Gelegenheit, die sich ihm bot, zu nutzen. Sie waren auf dem Weg zu einer außerordentlichen Versammlung der Reeder. Sein Vater, Friedrich Mayrhöfer, ging bereits auf die siebzig zu, hielt aber – zu Edwards Leidwesen – in der Firma immer noch die Fäden in der Hand. Von allen respektvoll »der alte Fritz« genannt, gab er auch innerhalb der Reeder-Vereinigung den Ton an. Bislang war Mayrhöfer & Seggelke das größte Unternehmen dieser Art gewesen. Doch das traditionelle Kräfteverhältnis war in diesen Tagen akut in Gefahr.

Edward strich sich über das volle, dunkle Haar und prüfte im Rückspiegel den korrekten Sitz seiner Krawatte. Sein Vater hatte die behandschuhten Hände auf seinen Gehstock gelegt und sah mit entschlossener Miene der bevorstehenden Versammlung entgegen.

»Ich hoffe, du bist dir deiner Verantwortung bewusst, mein Sohn. Heute werden wir es richten müssen.«

»Keine Sorge, Vater. Ich bin vorbereitet. An unserem Konzept kommt kein geradeaus denkender Kaufmann vorbei«, erwiderte Edward betont munter.

Friedrich schenkte seinem Sohn ein vages Lächeln, das Edward als ein »Wollen wir es hoffen!« deutete. Der Wagen hielt vor dem Börsengarten.

Edward blickte nervös zum Säulenportal des prunkvollen Gebäudes. Ein livrierter Diener eilte die Stufen hinunter und öffnete ihnen die Wagentür.

Als sie die Eingangshalle betraten, wartete bereits Heinrich Waller, der Geschäftsführer des Königsberger Börsenvereins, auf sie. Sein grauer Backenbart war wie immer akkurat geschnitten, und er hatte sein einnehmendes Lächeln aufgesetzt, mit dem er wichtige Kunden, hochrangige Politiker und einflussreiche Kaufleute zu begrüßen pflegte. Edward betrachtete Waller und atmete tief durch. Er wollte etwas sagen. Schließlich hing alles von einer möglichen Einigung an diesem Abend ab. Doch sein Vater kam ihm zuvor.

»Na, denn man los, Waller. Bringen Sie uns zu der Meute.«

Der Geschäftsführer des Börsenvereins nickte beflissen und führte sie in den Gartensaal. Hier pflegte die hanseatische Kaufmannschaft ihre Feste zu feiern. Glänzender Parkettboden, große Pflanzkübel mit tropischen Gewächsen, die Wände mit Mahagoni vertäfelt. Von der Decke hing ein schwerer Kristalllüster. Darunter befand sich die festlich gedeckte Tafel mit schwerem Tafelsilber, Meissner Porzellan und Damastservietten. In der Mitte prangte ein üppiges Blumenbouquet.

Rund ein Dutzend Männer war bereits versammelt. In der Luft hingen dicke Schwaden Zigarrenrauch. Ein Kellner ging herum und reichte edlen Burgunder. Die Neuankömmlinge wurden begrüßt, und es dauerte eine Weile, bis alle Hände geschüttelt waren. Edward sah, wie Waller dem Kellner ein Zeichen gab. Eine Schiffsglocke wurde geschlagen, mit der die Gäste zu Tisch gerufen wurden.

Während der Rigaer Butt aufgetragen wurde, ließ Edward den Blick über die Tafel schweifen. Alle großen Reeder des Landes waren gekommen. Die Männer schienen unbekümmert wie immer und ließen es sich schmecken. Edward hatte schon seine Vorsuppe kaum angerührt. Er verspürte keinen Appetit. Er sah zu seinem Vater, der ebenfalls nur wenige Bissen von seinem Butt verspeiste, bevor er seinen Teller von sich schob. Der alte Mayrhöfer wartete nicht ab, bis der letzte Gast seinen Teller leer gegessen hatte, sondern griff zu seinem Messer und schlug ungeduldig an sein Glas. Die Tischgespräche verebbten, und gespannte Erwartung breitete sich aus.

»Liebe Kollegen, ich habe Sie heute aus einem einzigen Grund hierher eingeladen. Nicht weniger als die Zukunft der ostpreußischen Schifffahrt steht auf dem Spiel. Sie wird bedroht von einem Mann, der wie kaum ein anderer von der verheerenden Inflation des letzten Jahres profitiert hat. Und dieser Mann ist Hugo Stinnes!«

Die Männer nickten beifällig, tauschten ernste Blicke.

»Stinnes hat sich nicht nur eigene Schiffe und gleich zwei Reedereien zugelegt – Poseidon und Artus. Nein, er hat sich auch große Anteile an Importkohle und dem Holzgeschäft gesichert. Sein Ziel ist klar: den Wettbewerb der freien Reeder in die Knie zu zwingen.«

Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Edward sah nervös zu der Aktenmappe auf seinem Schoß. Er ging in Gedanken noch einmal das Konzept durch, das er gemeinsam mit seinem Freund und Mitarbeiter Gerhard Kanzin erstellt hatte.

»Ich frage nun: Wer von uns hat in den letzten Monaten nicht irgendein Bestandsgeschäft an die verdammte Poseidon-Reederei verloren?«

Einmal mehr war Edward von dem charismatischen Auftreten seines Vaters beeindruckt. Er sah, wie er seinen eindringlichen Blick herausfordernd über die Anwesenden gleiten ließ. Niemand widersprach. Alle hatten die gleiche schmerzhafte Erfahrung gemacht.

Der kahle Johann Gerland, Geschäftsführer von Storrer & Scott, nickte mit hochrotem Kopf. »Dieser Roggenbucke kauft sich das Geschäft. Kann mir doch keiner erzählen, dass der was an den Frachten verdient. Das ist unmöglich«, schimpfte er und schlug mit seiner Hand auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. »Mit dem Kohlegeschäft im Rücken zieht der die Kontrakte für Getreide, Mehl und auch Zellulose mit für uns ruinösen Raten einfach so aus dem Markt.«

»Gerland hat recht!«, rief Jesse Ivers, ein elegant gekleideter Mittvierziger im Stresemann, Inhaber der erst 1910 gegründeten Reederei Ivers & Arlt. Für die Alteingesessenen ein neureicher Emporkömmling. »Lange können wir da nicht mehr mithalten. Die halbe Flotte liegt seit der Eisschmelze ohne Auftrag nutzlos im Hafen.«

Der alte Konrad Kleyenstüber meldete sich zu Wort. »Wir haben sogar Kontrakte verloren, die unser Haus seit mehr als fünfzehn Jahren gehalten hat. Hier wird Dumping betrieben! Auf dem Spotmarkt sind solche Verluste nicht aufzufangen.«

Er klang verbittert. Nicht ohne Grund, wie Edward wusste. Der alte Kleyenstüber und Edwards Vater hatten jahrzehntelang die Geschicke des Reedereiwesens in Ostpreußen quasi im Alleingang gelenkt.

»Bei uns im Memelgebiet sieht die Lage nicht besser aus«, sagte Konsul Schmälling, ein würdiger Hanseat, dessen dicker Hals von einem Vatermörderkragen abgeschnürt wurde. Mit seinem gewaltigen Schnurrbart erinnerte er Edward an ein Walross. »Die litauischen Behörden behindern uns zwar nicht weiter, aber sie sind auch keine Hilfe beim Versuch, uns gegen die erdrückende Konkurrenz von Artus zu behaupten. Mittlerweile haben die sogar ein Kontor im Hafen von Memel eröffnet.«

Mit einem knappen Handzeichen bedeutete der alte Mayrhöfer ihm zu schweigen. Mit Klagen kamen sie nicht weiter. Jetzt galt es, die Weichen für die Zukunft zu stellen, um den Industriemagnaten von der Ruhr endlich in die Schranken zu weisen.

»Nun denn, und genau aus diesem Grund sind wir hier.« Der alte Mayrhöfer machte eine Kunstpause und wandte sich langsam zu Edward um. »Mein Sohn Edward hat einen Plan entwickelt, wie wir Stinnes und seiner aggressiven Expansionspolitik Paroli bieten können. Bitte, Edward!«

Edward atmete tief durch, dann stand er auf. Er räusperte sich. Nun galt es. Wie zuvor sein Vater ließ auch er seinen Blick schweifen, um sich der ungeteilten Aufmerksamkeit der Anwesenden zu versichern. Dann begann er.

»Mein Konzept sieht vor, dass wir unsere Schiffsraumkapazitäten bündeln und die großen Relationen nach Riga, Stockholm, Helsinki, Stettin und Danzig mit einem gemeinsamen Fahrplan anbieten. Auch die Aufträge akquirieren wir gemeinsam. So können wir zum einen die einzelnen Schiffe besser auslasten und zum anderen die Schiffe ihrer individuellen Stärke entsprechend optimal einsetzen.«

Edward sah, wie einige Zuhörer zustimmend nickten. Das verlieh ihm Mut. Mit festerer Stimme fuhr er fort.

»Herr Leo, Ihnen muss doch das Herz bluten, wenn die stolze Ostpreußen mit ihren 4000 Tonnen lächerliche zwanzig Kisten Bananen und Südfrüchte durch den Seekanal bringt.«

Heinrich Leo, der Inhaber von Marcus Cohn & Sohn, nickte resigniert. »Eine Schande ist das.«

»Exakt! So sehe ich das auch«, fuhr Edward lebhaft fort. Er nahm seine Aktenmappe zur Hand und reichte nach rechts und links Durchschläge der Tischvorlage, die er vorbereitet hatte. »In dem vorliegenden Papier finden Sie die wichtigsten Stichpunkte zu meinem Konzept. Die rechtliche Selbstständigkeit der einzelnen Mitglieder bleibt selbstverständlich gewahrt. Das System, das hier zur Anwendung kommt, bezeichnet man in England als ›pool‹ oder ›conference‹. Nicht nur das gesamte Ladungsaufkommen, sondern auch die Frachterlöse der Pool-Mitglieder werden nach Abzug bestimmter Kosten nach einem vorher festgelegten Schlüssel auf die Pool-Mitglieder verteilt.«

»Was passiert, wenn einer der Partner wesentlich mehr an Ladung bekommt als die anderen?«, hakte Heinrich Leo nach.

Edward war auf diese Frage vorbereitet. »Wer mehr Ladung verlädt als nach der Quote vorgesehen, muss als sogenannter Overcarrier denjenigen, der weniger Ladung verlädt, finanziell entschädigen.«

»Also mir ist immer noch nicht ganz klar, wo für uns die Vorteile liegen sollen.« Der schmächtige Dr. Trimmel vom Tilsiter Dampferverein blinzelte skeptisch durch seine runde Brille.

Doch Edward war auf alles vorbereitet. Dies war seine Stunde. »Für die...