Der Junge, der den Wind einfing - Eine afrikanische Heldengeschichte

von: William Kamkwamba, Bryan Mealer

Diederichs Verlag, 2021

ISBN: 9783641266448 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Der Junge, der den Wind einfing - Eine afrikanische Heldengeschichte


 

Kapitel 2

Der geläuterte Papst

Als junger Mann war mein Vater Trywell ziemlich berühmt. Heute ist er ein Farmer, so wie sein Vater und der Vater seines Vaters. Offensichtlich wird jeder, der in Malawi zur Welt kommt, automatisch Farmer; das scheint in der Verfassung verankert zu sein wie ein Gesetz, das schon Moses auf seinen Tafeln stehen hatte. Und wer das Land nicht bearbeitete, kaufte und verkaufte Sachen auf dem Markt. Bevor sich mein Vater also mit Haut und Haar dem Feld widmete, führte er das verrückte Leben eines umherziehenden Händlers.

Damals lebte er in Dowa, einer kleinen Stadt südöstlich von Masitala hoch oben in den braunen Hügeln. In den 70er- und 80er-Jahren war in Dowa einiges los; hier konnte ein junger Bursche gut sein Geld verdienen. Zu der Zeit wurde Malawi von Hastings Kamuzu Banda regiert, einem mächtigen Diktator, der über dreißig Jahre lang in unserem Land herrschte.

Die Geschichte des Diktators Banda kannte jedes Kind in Malawi. Er ist in Kasungu, im Schatten des großen Hügels, aufgewachsen, wo die Chewa die Ngoni besiegt hatten. Als Junge ist Banda barfuß eintausend Meilen weit gelaufen, um in den Goldminen Südafrikas zu arbeiten. Später bekam er Stipendien an den Universitäten von Indiana und Tennessee, wo er ein Medizinstudium absolvierte. Er praktizierte als Arzt in England, bevor er nach Malawi zurückkehrte, um uns vom britischen Joch zu befreien. Er wurde unser erster großer Anführer und bekam 1971, nachdem er das Parlament extrem unter Druck gesetzt hatte, von diesem den Titel »Präsident auf Lebenszeit« verliehen.

Banda war ein zäher Bursche. Er verlangte von jedem Händler in Malawi, dass er das Porträt des Präsidenten in seinem Laden aufhängte. Kein anderes Foto durfte höher hängen als dieses. Wurde man dabei erwischt, kein Foto von unserem verehrten Präsidenten aufgehängt zu haben – auf diesen Fotos trug der Präsident immer einen dreiteiligen Anzug und hatte einen Fliegenwedel in der Hand –, musste man eine saftige Strafe bezahlen. Zu dieser Zeit hatten die Menschen in Malawi Angst und waren verwirrt. Banda verbot es Frauen auch, Hosen oder Kleider zu tragen, die ihre Knie entblößten. Männer mit langen Haaren ließ er ins Gefängnis werfen. Auch das Küssen in der Öffentlichkeit war verboten, ebenso wie Filme, in denen Kussszenen vorkamen. Der Präsident hasste das Küssen, und auch heute noch haben die Menschen in Malawi Angst, öffentlich zu schmusen. Und zu allem Überfluss griffen die Polizisten und die MYP – die »Malawi Young Pioneers«, Bandas persönliche Schläger – Menschen auf der Straße auf, die es wagten, die Politik des Präsidenten zu kritisieren. Viele Malawier landeten im Gefängnis, wo sie gefoltert oder sogar hungrigen Krokodilen zum Fraß vorgeworfen wurden.

Doch trotz allem war es zu dieser Zeit sehr aufregend, ein Händler zu sein. Immer wieder erzählte mein Vater davon, wie er damals per Anhalter auf Pick-ups über Land an den Malawisee gefahren ist, wo er getrockneten Fisch, Reis und gebrauchte Kleidung kaufte, die er dann auf dem Markt in Dowa wieder verkaufte. Der Malawisee ist einer der größten Seen der Welt; er bedeckt fast die gesamte Osthälfte unseres Landes. Der See ist so groß, dass sich darauf sogar Wellen wie auf einem Ozean bilden. Obwohl ich nur zwei Stunden entfernt von dem See aufgewachsen bin, habe ich ihn mit eigenen Augen erst gesehen, als ich schon zwanzig war. Doch als ich an seinem Ufer stand und über das schier endlose Wasser blickte, füllte sich mein Herz mit inniger Liebe für mein Heimatland.

Waren die Händler erst einmal am See angekommen, reisten sie mit Dampfern wie dem Ilala oder dem Chauncy Maples in Städte wie Nkhotakota oder Mangochi weiter. Auf den Dampfern gab es gutes Essen, und die Händler tranken und tanzten während der Überfahrt an Deck. Am See betrieb mein Vater Tauschhandel mit den Muslimen, den sogenannten Yao, die diesen Teil des Landes bevölkern.

Die Yao leben seit über hundert Jahren in Malawi; sie kamen von der anderen Seite des Sees aus Mosambik. Die Araber aus Sansibar hatten sie zum Islam bekehrt und dann angeheuert, die Chewa zu unterjochen. Sie griffen unsere Dörfer an, töteten die Männer und schickten Frauen und Kinder in Booten über den See. Dort legte man den Sklaven Halseisen an und trieb sie durch Tansania. Diese »Reise« dauerte drei Monate. Als sie am Meer ankamen, waren die meisten von ihnen tot. Später verkauften uns die Yao für Waffen, Gold und Salz an die Portugiesen.

Hätte es den großen schottischen Missionar und Entdecker David Livingston nicht gegeben, würden sich die Yao und Chewa wahrscheinlich heute noch nicht vertragen. Livingston setzte sich für das Ende der Sklaverei ein, öffnete Malawi dem Handel und sorgte für den Bau guter Schulen und Missionen. Die jungen Männer erhielten nun eine Ausbildung und verdienten Geld, und als diese wirtschaftlichen Möglichkeiten schließlich allen offenstanden, hatten die Yao und Chewa eigentlich keinen Grund mehr, gegeneinander zu kämpfen. Heute betrachten wir die Yao als unsere Brüder und Schwestern. Meine Mutter ist selbst eine Yao, und so bin auch ich zur Hälfte ein Yao.

Von meinem Vater kenne ich viele Geschichten über die kleine Stadt Mangochi am Südende des Sees, ganz in der Nähe der Shire-Flussmündung. So wie er die Stadt beschreibt, erinnert sie mich an die großen Basare Nordafrikas, die ich aus Büchern kenne. Die Straßen von Mangochi wimmelten nur so von Händlern aus ganz Malawi, Sambia, Tansania und Mosambik; das Sprachengewirr und die Klänge der Lieder vermischten sich mit dem Geruch verschwitzter Körper und dem Duft nach Gewürzen, gebratenem Fisch und geröstetem Mais.

In den Schnapshöhlen und bei den professionellen Damen der Nacht konnte man rasch sein ganzes Geld loswerden. Die Damen lockten die Händler mit heißen Bädern, teurem Essen und anderen Vergnügungen in ihr Reich. Was daran so toll sein sollte, verstand ich erst, als ich ein wenig älter war. Es kam nicht selten vor, dass ein Händler dabei die Kontrolle verlor und ihm das Geld ausging. Manchmal erzählte mein Vater von Männern, die aus diesen Lasterhöhlen flohen, mit nichts als ihren Unterhosen am Leib.

Viele der Händler, die sich mit Prostituierten vergnügten, hatten zu Hause Frau und Kinder. Das war allerdings lange bevor mein Vater meine Mutter getroffen hatte. Er war noch jung und viel zu sehr mit dem Reisen beschäftigt, als dass er sich um eine Frau oder eine Familie hätte kümmern können. Klar hatte er ein paar Freundinnen, von den Barmädchen hielt er sich in der Regel jedoch fern. Und weil sich das auf dem Markt rasch herumsprach, begannen die Leute, ihn »den Papst« zu nennen.

»Hey, Papa«, zogen sie ihn mit dem Chewa-Wort für »Papst« auf. »Was ist passiert? Bist du vom papau-Baum gefallen und hast dir die Eier geprellt? Hör nicht auf deine Mutter – die Mädels brennen nicht wirklich!«

Mein Vater duldete diese Frotzeleien. Was blieb ihm auch anderes übrig? Nach einer Weile nannten ihn so viele Leute Papst, dass sich irgendwann keiner mehr genau daran erinnern konnte, wie der Name eigentlich entstanden war.

Mein Vater war ein Riese und seine Trinkfestigkeit geradezu legendär. Eines Nachmittags ließ er sich gegen siebzehn Uhr mit seinen Freunden im Dowa General Grocery nieder. Seinen eigenen Angaben zufolge trank er dort sechsundfünfzig Flaschen Carlsberg-Bier, ging um zwei Uhr morgens nach Hause und war noch nüchtern genug, um davon zu erzählen. Solche Trinkgelage endeten manchmal auch in Faustkämpfen, die mein Vater als gute Gelegenheit ansah, ein bisschen Sport zu treiben.

Nach einiger Zeit war mein Vater einer der berühmtesten Händler der Gegend; nicht nur, weil er ein so cleverer Geschäftsmann war oder weil er so viel trinken konnte, sondern auch, weil er so stark war. In Malawi haben wir ein Sprichwort: »Ein Mann allein kann noch kein Dach anheben.« Nun, mein Vater schien dieses Sprichwort nicht zu kennen.

Einmal im Jahr, am 6. Juli, feiern wir Malawier unsere Unabhängigkeit von England – ähnlich wie unsere Brüder und Schwestern in Amerika am 4. Juli. Und ebenfalls wie in den Vereinigten Staaten feiern wir mit großen Partys und viel Musik, Tanz und gegrilltem Fleisch. An einem dieser Feiertage trat Robert Fumulani, der heilige Vater des Malawi-Reggae, in der Dowa District Hall auf – und nichts konnte meinen Vater, damals zweiundzwanzig Jahre alt, davon abhalten, dort hinzugehen.

Robert Fumulani war der Lieblingssänger meines Vaters. Seine Lieder handeln oft vom Kampf der Armen; seine Texte scheinen direkt aus der warmen roten Erde unseres Landes zu kommen. Mein Vater hatte Fumulani schon oft auftreten sehen, in Kasungu, Lilongwe, Nkhotakota und Ntchisi, und jedes Mal trug der Sänger sein typisches weißes Hemd, in dem er wirklich scharf aussah.

Wie man sich denken kann, bildete sich die Schlange am Unabhängigkeitstag vor der Dowa District Hall schon sehr früh, etwa zu der Zeit, als mein Vater sich an die Bar im General Grocery stellte. Stunden später wankte mein Vater ins Freie und hörte die wunderschöne Stimme Fumulanis – das Konzert hatte begonnen.

Mein Vater rannte zur District Hall hinüber, vor der immer noch ein Haufen von Leuten stand, die darauf warteten, eingelassen zu werden. Wer schon einmal mit uns Afrikanern am Flughafen oder an einer Bushaltestelle in einer Schlange gestanden hat, weiß, dass wir es mit dem Schlangestehen nicht so haben. Wenn wir dabei nun etwas verpassen? Also verlor mein Vater keine Zeit und drängte sich ganz nach...