»Ein Sommer wie seither kein anderer« - Wie in Deutschland 1945 der Frieden begann - Zeitzeugen berichten - Ein SPIEGEL-BUCH

»Ein Sommer wie seither kein anderer« - Wie in Deutschland 1945 der Frieden begann - Zeitzeugen berichten - Ein SPIEGEL-BUCH

von: Hauke Goos, Alexander Smoltczyk

Deutsche Verlags-Anstalt, 2021

ISBN: 9783641275860 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 19,99 EUR

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»Ein Sommer wie seither kein anderer« - Wie in Deutschland 1945 der Frieden begann - Zeitzeugen berichten - Ein SPIEGEL-BUCH


 

Georg Stefan Troller


Zur Person: Georg Stefan Troller wurde am 10. Dezember 1921 in Wien geboren. Sein Vater hatte in Brünn ein Pelzgeschäft besessen, war dann aber mit der Familie nach Wien gezogen. Troller machte zunächst eine Lehre als Buchbinder. Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich floh er im Alter von 16 Jahren in die Tschechoslowakei und von dort nach Frankreich, wo er bei Kriegsausbruch interniert wurde. Als er 1941 das dafür erforderliche Visum bekam, ging er in die USA. 1943 wurde Troller zum Kriegsdienst eingezogen, er war an der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau und der Stadt München beteiligt. Weil er Deutsch sprach, wurde er von der U. S. Army zur Vernehmung deutscher Kriegsgefangener eingesetzt. Nach Kriegsende studierte Troller in den USA Anglistik und Theaterwissenschaft, kehrte dann aber nach Europa zurück. Für den WDR produzierte er von 1962 an jahrelang das »Pariser Journal« und, nach seinem Wechsel zum ZDF, von 1971 an die Sendung »Personenbeschreibung«: subjektive, einfühlsame, sehr persönliche Interviews. Er schrieb Bücher und drehte Dokumentarfilme. Seit 1949 lebt Troller in Paris, in einer bescheidenen Dachwohnung im 7. Arrondissement. Sein Tonfall verrät ihn gleich als Wiener, er freut sich über das mitgebrachte Gebäck aus einer Heimat, die einmal glaubte, auf diesen Menschen verzichten zu können. Troller erinnert sich an jedes Detail, es ist der Blick eines Jahrhundertjournalisten.

Herr Troller, Sie waren, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, in Deutschland.

Am 1. Mai 1945, kurz nach der Befreiung von Dachau. Da war ich da. Und das war für mich das Kriegsende. Am gleichen Tag erfuhren wir, dass Hitler »im Felde gefallen« war. Für uns war das der entscheidende Tag.

Sie sind mit Ihrer Truppe nach München eingezogen, wann war das?

München wurde etwa am 28. April erobert. Und am 1. Mai bin ich nach Dachau gefahren mit unserem Team von Kriegsgefangenenvernehmern, in unserem Jeep.

Hatten Sie eine Ahnung, was Sie in Dachau erwartete?

Nicht auf diese Art, nicht in diesem Ausmaß. Diese Hunderte von Skeletten, mit gelber Haut überzogen, die da herumlagen. Ich glaube auch, ich habe hier das Wort »Auschwitz« zum ersten Mal gehört. Ich bin ziemlich sicher, dass mein Vater nach der Reichskristallnacht eine Woche in Dachau verbrachte, nur hat er nie ein Wort darüber verloren. Aber natürlich kannte jeder damals den Reim: »Lieber Herrgott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm.«

Den Spruch kannten auch die Münchner?

Er kam ja wohl von da. Und man konnte zu der Zeit von allen Seiten ins Lager hineinschauen. Auch jetzt gibt es noch ein Waldstück, von dem man direkt den Appellplatz einsehen kann. Das war allen gegenwärtig. Das wusste jeder.

Wer traf die Entscheidung, gleich nach Dachau hinauszufahren?

Das gehörte dazu. Erst einmal die Hitler-Wohnung, dann die Eva-Braun-Wohnung, dann Dachau. Und das war schon schockierend für unsere Boys. Die Amerikaner wussten ja von nichts. Wir hatten die Tschermans bekämpft, die Jerries, sogar manchmal die Nazis. Aber was da eigentlich los war mit dem »Dritten Reich«, das hat die Army erst in Nürnberg auf dem Parteitagsgelände begriffen und dann in Dachau. Das war für die G.I.s eine totale Überraschung. Das stand auch nicht in unserer Zeitung und war auch nicht Teil unserer Propaganda. Das galt als Nebensache. Unter anderem, weil es ja auch einen gewissen Antisemitismus gab in Amerika. Man wollte nicht, dass dies ein Juden-Befreiungskrieg wäre.

Wie äußerte sich der Antisemitismus in Amerika?

Na ja, die großen Universitäten hatten eine zwei- oder dreiprozentige Quote für Juden, das galt als selbstverständlich. Die angesehensten Klubs ließen keine Juden herein. Die fraternities an den großen Universitäten haben keine Juden aufgenommen. Es gab Restaurants, in denen Juden unerwünscht waren. Warum gehst du nicht zurück, wo du herkommst? Das war ein Satz, den man überall zu hören bekam. Als unser Emigrantenschiff in New York anlegte, war da eine Rubrik auszufüllen: »Rasse«. Und ich schrieb natürlich hinein: »weiße«. Nix gut. Was du hinzusetzen hattest, war Hebräer-Rasse, hebrew race. Das erste Mal, dass ich den Ausdruck gehört habe.

Sergeant Binder, der verantwortliche Unteroffizier in Ihrem Team, war ja wohl Antisemit?

Er war Deutschamerikaner. Und er hatte wie viele von ihnen ein Herz für the old country, egal unter welchem Regime. In New York gab es ja auch den deutsch-amerikanischen »Bund«, eine reine Naziorganisation. Und es gab Stadtviertel wie Yorkville, wo Brecht hingehen durfte, aber ich nicht hinging. Diese Jungs dort hielten uniformierte Sommerlager ab. Das war mehr oder weniger wie die Hitler-Jugend. Und das war toleriert bis zum Kriegsausbruch … Dann, in der Armee, im Ausbildungslager, kam dieser primitive Typ auf mich zu und fragte: »You Tscherman? Dann musst du ja ein großer Freund von Hitler sein.« Und ich sagte: »Ja, mein bester Kumpel.« Darauf zeigte er mich an in der Schreibstube, und ich blieb ein Jahr im Ausbildungslager als Kartoffelschäler, während die ganzen Kameraden schon lange eingesetzt waren, in Afrika gegen Rommel. Bis ich den Grund herausfand und mich meldete. Eine Woche später war ich shipped out. Nach Casablanca.

Wann haben Sie zum ersten Mal den Satz gehört: Jetzt muss aber auch mal Schluss sein?

Im Mai 1945. Das war sofort da. Und das andere war auch da: Je mehr man gelitten hat durch die Luftangriffe und den Mangel an Lebensmitteln und Kohle, umso mehr hat man bereits den Ausgleich für solche Dinge wie Auschwitz erlangt, die Absolution. »Wir unter den Bombennächten und die Flüchtlinge unter dem Iwan – wir haben doch schon alles abgebüßt, was wollt ihr jetzt noch von uns?« Und anschließend: »Was habt ihr eigentlich gegen uns, wir haben euch doch nichts getan.« Und dann kam auch schon bald die Vorstellung: Wir mit unserem Soldatentum und ihr mit eurem Material, wir hätten doch eigentlich zusammen gegen den Iwan marschieren sollen. Das hätte auch so hinhauen können, wenn nicht dieser besoffene Gangster Churchill und der Jude Roosevelt das hintertrieben hätten, leider.

In Ihrem Buch »Selbstbeschreibung« bezeichnen Sie die Stimmung der meisten Deutschen damals als ein dauerndes Beleidigtsein und Muffigsein. Können Sie das beschreiben?

Aus der Traum! Das ganze »Dritte Reich« beruhte ja im Seelischen auf Illusion, auf Traum. Auf irgendwelchen romantischen Vorstellungen von Volkstum, Brauchtum, Ariertum. Blutfahne. Blut und Boden. Sonnwendfeier. Nibelungentreue. Meine Ehre heißt Treue. Division Frundsberg, Division Florian Geyer. Und fast jeder glaubte doch bis zuletzt an den Endsieg, mithilfe neuer Wunderwaffen, die zu Hitlers Geburtstag im April auf einmal magisch da sein würden.

Und jetzt?

Jetzt redeten sie alle vom Zusammenbruch, vom Ende Deutschlands. Das Wort »Befreiung« habe ich nie gehört damals. Dass Amerika etwas anderes zu bieten hätte als seinen öden Materialismus, also zum Beispiel so etwas wie Freiheit und Demokratie, das war ja überhaupt nicht im Gedankenschatz der Deutschen vorgesehen. Unser Material haben sie alle bewundert, die Jeeps, die Walkie-Talkies. »Kein Wunder, dass ihr den Krieg gewonnen habt, mit dem Material.«

Sie selbst haben irgendwie erwartet, dass die Glocken läuten würden, wenn Sie als Befreier nach Deutschland kämen. Doch die Glocken läuteten nicht. Es gab keinen Jubel?

Die standen da herum um die Bretterzäune und Plakatsäulen, wo die ersten Anordnungen der Militärregierung klebten, und wussten eigentlich nicht, wie ihnen geschah. Es gibt diesen Moment, wo du von einem Traum erwachst und bist noch nicht ganz da. Die waren noch nicht ganz da. Die zwölf Jahre Nazitum und Krieg hatten das Volk umgekrempelt. Die schienen nicht mehr zur vernünftigen Selbstbetrachtung fähig. Mit Ausnahmen natürlich. Ich habe dann gleich gute Freunde gefunden, die mir auch lebenslang verbunden blieben. Außerdem waren ja in Bayern die »Preissen« an allem schuld, eine gute Ausrede.

Aber für die 16- oder 17-Jährigen muss es doch eine Art Befreiung gewesen sein von den bisherigen Zwängen?

Auch die 17-Jährigen waren ja schon zumeist im Kriegsdienst gewesen. Oder zumindest in der Flak. Die hatten schon den Krieg miterlebt. Und die Flucht. Was die zusammenhielt, war weniger das Nazitum als der »Haufen«. Man gehörte einem Haufen an, und diesem Haufen war man verpflichtet. Die Widerstandsfähigkeit der deutschen Landser beruhte damals sehr stark auf der Liebe zu ihrem Haufen. Wir waren ja erstaunt, dass die auch nach einer Verwundung wieder zu ihrer Einheit zurückstrebten, nicht nach Hause. Das war letztlich die Stärke der deutschen Wehrmacht. Und dazu gehörten eben auch die Jungen. Aber natürlich gab es schon ein Vortasten ins neue Leben. Die Popmusik am amerikanischen Soldatensender AFN war wichtig. Die neuen Tänze. Die Ami-Zigaretten. Die Jungen konnten sich freier fühlen, erwachsener. Aber dazu brauchte es natürlich eine gewisse Zeit. Zuerst war da diese allgemeine Ratlosigkeit: Was ist nun eigentlich mit uns los? Und wie geht’s weiter?

Ein Gefühl wie eine örtliche Betäubung?

Oder wie Schlafwandelei. Was tun, woran jetzt glauben? Echte Nazis waren ja kaum mehr zu finden, und wenn, dann eher unter den Frauen. Als hätten sie alle davon geträumt, den »Führer« zu...