Deichbrückenmord in Bensersiel. Ostfrieslandkrimi

Deichbrückenmord in Bensersiel. Ostfrieslandkrimi

von: Rolf Uliczka

Klarant, 2020

ISBN: 9783965862869 , 200 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 3,99 EUR

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Deichbrückenmord in Bensersiel. Ostfrieslandkrimi


 

1. Kapitel


 

Jano Wilts war in Bensersiel an diesem sonnig herbstlichen Montagmorgen auf dem Rückweg von seiner Joggingrunde. Das letzte Stück lief er immer über die westliche Deichbrücke beim Kutter- und Yachthafen des beliebten ostfriesischen Nordsee­heilbades. Die Deichbrücken links und rechts vom Sielwerk waren inzwischen zu einem Wahrzeichen seines Heimatortes Bensersiel geworden. Von dort ging es dann noch ein Stück auf dem Deich entlang, dann runter zu dem kleinen Kreisel vor dem Parkplatz am Strandportal und links zum Fünf-Sterne-Campingplatz, auf dem seine Frau Marika in ihrem Wohnmobil mit dem Frühstück auf ihn wartete. Die Brötchen dazu hatte er unterwegs beim Bäcker eingekauft.

Wie üblich machte er auf der Deichbrücke über der Hafeneinfahrt noch seine Dehnungsübungen, bei denen ihm die Verstrebungen des Brückengeländers sehr hilfreich waren. Normalerweise genoss er dabei den Blick über die Kaianlage und den Yachthafen bis hin zur Nordseeinsel Langeoog. Im Innenhafen schaukelten noch ein paar Motorboote in der Dünung und lugten jetzt bei Hochwasser über die Hafenkante. Nach dem offiziellen Absegeln vor drei Wochen war im Außenhafen am letzten Wochenende mit dem Abbau der Steganlage für den Winter begonnen worden.

Heute war Jano aber innerlich zu angespannt, um das sonnige Wetter und den Blick aufs Meer hinaus wie sonst genießen zu können. Nach seiner Rückkehr zum Wohnmobil entging auch Marika seine Anspannung nicht. Als er von der Dusche zurückkam und sich an den gedeckten Kaffeetisch setzte, wollte sie daher wissen, was los war.

»Nichts, mein Schatz«, versuchte er abzuwiegeln. »Ich habe nur beim Bäcker einen alten Schulfreund getroffen und wir haben eine Weile über alte Zeiten gequatscht. Dabei hat mich wahrscheinlich seine Frage, was denn nun mit den Ländereien meines Vaters wird, etwas aufgeregt. Auf jeden Fall wollen wir heute Abend mal wieder einen gemeinsamen Halbmarathon starten. Das wird mir den Kopf freiblasen. Wir treffen uns um neunzehn Uhr oben an den Deichbrücken zu einem Lauf in den Sonnenuntergang. Du weißt ja, dann an Dornumersiel und Holtgast vorbei und über Esens zurück. Anschließend werden wir noch bei ihm zu Abend essen. Wäsche zum Wechseln und Duschzeug packe ich in meinen kleinen Rucksack. Es könnte also spät werden.«

Diese Antwort überraschte seine Frau nicht. Einerseits mussten nach dem kürzlichen Tod seines Vaters in der Erbschafts­angelegenheit des großen Milchwirtschaftsbetriebes einige wichtige Entscheidungen getroffen werden. Andererseits war sie gewöhnt, dass Jano auch zu Hause in den Abendstunden, zumeist einmal im Monat, eine Halbmarathonstrecke lief. Seine Fünf-bis-zehn-Kilometer-Läufe, mindestens zwei- bis dreimal die Woche, waren bei ihm ohnehin Standard. Zu Hause im Saterland hatte er da auch für jede Entfernung seine festen Strecken. Wobei sie seine Fünf-Kilometer-Strecke einmal die Woche selbst mitlief.

Sport hatte in der Familie Wilts einen sehr hohen Stellenwert. Die Söhne spielten seit ihrer Kindheit im Sportverein Blau-Weiß Ramsloh Fußball, und Jano war dort Jugendtrainer im Verein. Insofern hatte Marika in Bezug auf die beabsichtigte Joggingplanung ihres Mannes auch keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. So konnte sie auch nicht ahnen, dass er ihr diesmal nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte.

Im Gegensatz zu den früheren Aufenthalten am Strand und Hafen von Bensersiel waren die vergangenen Abende für Marika und Jano diesmal seit ihrer Ankunft am vergangenen Wochenende alles andere als entspannt und angenehm gewesen. Es hatte nur ein Diskussionsthema gegeben: Was wird mit dem Hof? Insofern war Marika sogar irgendwie froh, wenigstens mal wieder einen Abend ohne Diskussion in Ruhe vor dem Fernseher verbringen zu können.

 

Es war bereits nach Mitternacht, als Jano auf dem Heimweg war. Es hatte mächtig abgekühlt und leichter Ostwind trieb Wolkenfetzen über den nur von einer kleinen Mondsichel erleuchteten Nachthimmel. Er hatte die Kapuze seines Shirts über den Kopf gezogen, und aus den Ohrstöpseln seines MP3-Players beflügelte Joggingmusik seinen Laufrhythmus. Der Lichtkegel seiner kleinen Stirnband-LED-Lampe sprang im Takt seiner Laufschritte über den Weg.

So bemerkte er auch nicht den Schatten, der ihm schon seit einiger Zeit mit gleichem Schritttempo im Dunkeln gefolgt war.

Dann erreichte Jano die Rampe der westlichen Deichbrücke. Das Stretching stand heute Nacht nicht auf seinem Programm. Einerseits sehnte er sich nach seinem Bett. Andererseits bereitete ihm dieser Gedanke heute sogar ein gewisses Unbehagen, und die unangenehme Anspannung von heute Morgen war plötzlich wieder da.

Es war seine letzte bewusste Wahrnehmung. Dann traf ihn von hinten ein harter Schlag. Eine Stahlspitze bohrte sich durch seine Schädeldecke und löschte sein Leben von einer Sekunde auf die andere für immer aus.

 

***

 

Eigentlich hatte sich Marika auf einen schönen ruhigen Fernsehabend gefreut. Aber kaum waren die Nachrichten im Ersten vorbei, wurde heftig an die Tür ihres Wohnmobils geklopft. Wer konnte das sein? Sie erwartete keine Besucher und Jano war mit seinem Freund auf einer großen Joggingrunde.

»Wer ist da?«, fragte sie, ohne die Tür oder eine Jalousie zu öffnen.

»David Römer. Wir sind uns zwar noch nicht begegnet, Frau Wilts, aber ich bin der Schwager von Jano aus Zweibrücken. Mein Bruder Oliver und ich wollen mit Ihrem Mann über den morgigen Termin beim Notar sprechen. Es wäre für ihn sehr wichtig. Können wir vielleicht kurz reinkommen?«

»Nein, tut mir leid, Herr Römer. Mein Mann ist nicht da. Er hat auch noch nie Ihren Namen erwähnt, und wie Sie schon sagten, wir kennen uns nicht. Daher bitte ich um Ihr Verständnis, dass ich abends so spät keine unangemeldeten und unbekannten Besucher reinlasse.«

»Wo ist Jano denn? Und wann kommt er wieder zurück?«, wollte der andere Mann wissen.

»Wo mein Mann ist, geht Sie eigentlich nichts an! Aber ich will nicht unhöflich sein, und da Sie auch von dem Notartermin wissen, gehe ich mal davon aus, dass Ihre Angaben stimmen. Deshalb sage ich Ihnen, dass Sie meinen Mann nicht vor dem Termin morgen früh werden sprechen können. Er ist jetzt mit einem Freund zu einem nächtlichen Halbmarathon unterwegs. Wann er heute Nacht nach Hause kommt, weiß ich nicht. Deswegen würde ich Sie bitten, jetzt zu gehen.«

»Verdammt, Frau Wilts, der Jano weiß doch, was morgen auf dem Spiel steht. Da kann er doch nicht in aller Ruhe bis spät in die Nacht ein beklopptes Nachtjogging machen! Können Sie uns denn wenigstens sagen, welche Strecke er läuft?«, fragte der Mann, der sich als David Römer vorgestellt hatte.

»Kann ich Ihnen leider nicht sagen. Und jetzt würde ich Sie nochmals dringend bitten zu gehen«, wurde Marika energisch.

Sie hörte dann noch, wie Janos Schwager beim Weggehen sagte: »Ich werde mal Cordula fragen, vielleicht weiß sie ja, wo der Sturkopp immer läuft.«

 

Marika hatte den Ton des Fernsehers ausgeschaltet, als an die Tür geklopft worden war. So wie es aussah, lief jetzt nach den Nachrichten ein Tatort. Nach Krimi war ihr aber gar nicht. Die unangemeldeten Besucher hatten sie regelrecht aufgewühlt. So musste es auch Jano heute Morgen gegangen sein, als ihn sein Freund nach den Ländereien seines Vaters gefragt hatte. Es ging für sie und ihren Mann ja dabei nicht nur um Geld aus der Erbschaft. Daran hing für ihre ganze Familie auch die existenzielle Entscheidung: Bleiben wir im Saterland oder übernehmen wir den Milchwirtschaftsbetrieb in Bensersiel?

Sie zappte noch eine Weile herum. Dann machte sie den Apparat aus und setzte Teewasser auf. Sie brauchte jetzt etwas zur Beruhigung. Was hatten die beiden von Jano wirklich gewollt? Hatten sie vielleicht ernsthaft geglaubt, dass sie ihn umstimmen könnten und dass er käuflich wäre? Nachdem sie ein paar Schlucke von dem Beruhigungstee getrunken hatte, versuchte Marika etwas Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen.

Eigentlich führte sie mit Jano eine recht harmonische Ehe. Optisch passten sie gut zusammen und konnten als groß gewachsene Friesen ihre Herkunft nicht verleugnen. Sie waren beide in ihren Wesenszügen sehr stark von der heimischen Scholle geprägt und auf den Bauernhöfen ihrer Väter aufgewachsen. Ihr Vater bewirtschaftete heute noch mit ihrem Bruder den Hof. Janos Vater war vor Kurzem gestorben.

Nachdem Jano und sie geheiratet hatten, war er zu ihr und den Saterfriesen ins etwa fünfundachtzig Kilometer entfernte Saterland gezogen. Marika konnte es kaum glauben, dass das schon über zwanzig Jahre her sein sollte. Sie sah Jano noch wie heute vor sich, den zwanzigjährigen, coolen Langstreckenjunkie.

 

***

 

Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Jano Wilts hatte mit den Helfern des Hofes die Milchkühe seines Vaters versorgt. Zeit für seine Laufrunde vom Hof seines Vaters über die Bensersieler Straße bis zum Ortsrand Esens. Von dort über die Hartwarder Straße bis Ostbense. Ab da lief der Zwanzigjährige gerne oben auf dem Deich und...