Eine kleine Geschichte des Bergsteigens - Von der Erstbesteigung des Mont Blanc zum Free Solo am El Capitan

Eine kleine Geschichte des Bergsteigens - Von der Erstbesteigung des Mont Blanc zum Free Solo am El Capitan

von: Malte Roeper

riva Verlag, 2021

ISBN: 9783745312881 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Eine kleine Geschichte des Bergsteigens - Von der Erstbesteigung des Mont Blanc zum Free Solo am El Capitan


 

Exkurs


FRAUENBERGSTEIGEN ODER BERGSTEIGENDE FRAUEN?


1929 PAULA WIESINGER, HANS STEGER: ROSENGARTENSPITZE, DIREKTE OSTWAND
2020 ANGELA EITER: MADAME CHING 9B


In vielen sportlichen Disziplinen sind Männer leistungsfähiger als Frauen, deswegen existieren sinnvollerweise getrennte Wertungen: Männer treten gegen Männer an, Frauen messen sich mit Frauen. Es gibt Frauenfußball, es gibt Frauenhandball, aber kein Frauenbergsteigen in diesem Sinne, sondern einfach bergsteigende Frauen – weil es keine getrennte Wertung gab und es sie bis heute nicht gibt. Zum einen war Alpinismus sehr lange wirklich eine Männerdomäne, es war ja fast die ganze Welt eine Männerdomäne. Der andere Teil der Ursache ist eigentlich positiv: Es existierte und existiert eben keine wirklich offizielle Wertung. Ausgenommen bei Kletterwettkämpfen gibt es beim Bergsteigen keine offiziellen Spielfelder und -regeln, keine Schiedsrichter, es gibt nur die Fachpresse. So etwas wie ein sportliches Regelwerk ergibt sich vielleicht aus definierten Leistungen wie etwa »rotpunkt«. Aber es gibt keine Verbote und Vorschriften: Sie, liebe Leserin, lieber Leser, könnten in diesem Moment Ihre Sachen packen, nach Grindelwald fahren (vorausgesetzt, die Corona-Beschränkungen lassen das zu) und solo in eine neue Route in der Eiger-Nordwand einsteigen, die einmal quer von links nach rechts durch die Wand führt. Sie dürfen das, jeder darf das. Ob Sie das wollen oder können, ist eine andere Frage. Eine vergleichbare Freiheit finden Sie in keiner konventionellen Sportart dieser Welt.

In diesem anarchischen Durcheinander fielen und fallen nur die spektakulärsten Leistungen auf, was zur Folge hat, dass viele von Frauen erbrachte Großtaten untergingen. Paradebeispiel ist die fantastische Paula Wiesinger, geboren 1907 in Bozen. Mit ihrem späteren Mann, dem Münchner Paul Steger, eröffnete sie 1929 die Direkte Ostwand der Rosengartenspitze, 600 Meter hoch und im unteren sechsten Schwierigkeitsgrad. Damals verdammt sportlich, ist die Steger heute einer der beliebtesten Anstiege in diesem Grad in der Rosengartengruppe. Die Tradition mit den Routennamen ist aber folgende: Nach EINEM der Erstbegeher heißt eine Tour, wenn der alles vorgestiegen ist oder deutlich bekannter ist, so die meisten Erstbegehungen von Starbergsteigern wie Riccardo Cassin, Hermann Buhl oder Walter Bonatti. Bei zwei gleichberechtigten Bergsteigern heißt die Route nach BEIDEN, etwa die Solleder-Lettenbauer an der Civetta. Paula Wiesinger kletterte mit Paul Steger immer in Wechselführung, Steger-Wiesinger wäre also der richtige Routenname. Aber es gibt eben kein Gremium, welches den Namen verfügt, solche Routennamen bürgern sich im Lauf der Zeit ein. Vielleicht war es keine Diskriminierung, sondern schlicht Unwissen, da jahrzehntelang die meisten Frauen am Berg tatsächlich hinterhergestiegen sind. Vielleicht wollten die Männer Wiesingers Leistung auch nicht wahrhaben und ignorierten sie vorsätzlich, denkbar wäre auch das.

Aber die ohne Vater aufgewachsene Wiesinger war viel zu selbstbewusst, um mit dem Lautsprecher durch Südtirol zu laufen und zu rufen: »Ich bin die Frau, die vorsteigt!« Anders als etwa Leni Riefenstahl, die sich stets als unerschrockene Amazone inszenierte, sich aber von Wiesinger doubeln ließ, wenn es bei Dreharbeiten am Berg Ernst wurde. Wiesinger kletterte weitere Neutouren, gewann fünfzehn italienische Ski-Meisterschaften, 1932 den Weltmeistertitel in der Abfahrt. Bei einem Rennen, bei dem Frauen nicht zugelassen waren, startete sie als Mann verkleidet (wurde allerdings erwischt). Das Hotel »Steger-Dellai«, das sie mit ihrem Mann auf der Seiseralm gründete, existiert noch heute.

Im August 2011 erreichten vier Menschen keuchend den höchsten Punkt des K2, das Sammeln von Achttausendern war zu diesem Zeitpunkt schon lange nichts Neues mehr. Als Erster hatte bekanntlich Reinhold Messner alle vierzehn zusammen, nun waren drei von den vier Personen auf dem K2 schon Nr. 25, 26 und 27. Und diese Besteigung sollte deswegen bemerkenswert sein, weil hier mit Gerlinde Kaltenbrunner die dritte Frau auf ihrem vierzehnten Achttausender stand, sie das aber als erste Frau ohne künstlichen Sauerstoff geschafft hatte? Die zwei anderen, die mit ihr den Gipfel erreicht und nun ebenfalls alle vierzehn bestiegen hatten, hatten dies ja ebenfalls ohne künstlichen Sauerstoff bewältigt, waren aber Männer. Was ist noch wichtig daran, wenn einer Frau gelingt, was Männer schon lange können? Wir haben uns ja erfreulicherweise nicht nur an die Vorstellung gewöhnt, dass Männer nicht mehr alles besser können, sondern eben auch längst an die Praxis, den Alltag.

Dass und wie Gerlinde Kaltenbrunner im August 2011 den K2 bestieg, war am Ende deswegen eine wichtige Geschichte, weil jetzt eine so großartige Botschafterin des Bergsteigens endgültig weltbekannt wurde. Als Kind wollte sie bei Skirennen nicht gegen ihre Freundinnen antreten, weil sie das Konkurrenzdenken so verabscheute. Und auch auf Expedition lebte die zierliche Krankenschwester aus Oberösterreich den Teamgedanken und trat für die anderen so ausdauernd die Spur, dass man sie »Cinderella Caterpillar« nannte. So etwas zählt, so etwas bleibt.

Ohne die grandiosen Leistungen von Bergsteigerinnen wie Lynn Hill oder Catherine Destivelle wäre diese kleine Geschichte des Bergsteigens ohnehin unvollständig und unvorstellbar. Die alpine Geschichte aber umzudeuten, umzuschreiben und weil es dem Zeitgeist entspräche mehr weibliche Besteigungen einzubauen, das würde am Ende auf eine Betrachtungsweise hinauslaufen, die in meinen Augen die wirklich frauenfeindliche wäre: »Tolle Leistung ... also für eine Frau.«

Lange Zeit war es aber wirklich so, dass viele (der ohnehin wenigen) Frauen am Fels im Schlepptau von Ehemann, Freund, Lebensgefährte liefen. Dieses traditionelle Pärchenklettern hatte dann oft etwas von Missionarsstellung: er oben, sie unten – er stieg voraus, sie stand unten beim Sichern. »Genau das hat sich in den letzten Jahren extrem geändert«, beobachtet Ines Papert, neben immer mehr Bergführerinnen Deutschlands einzige reguläre Profibergsteigerin, »dass ER vorsteigt, SIE sichert und er ihr dann Griff für Griff die Route erklärt, das siehst du heute nicht mehr so oft. Heute gehen Frauen mehr mit Frauen klettern, und wenn sie mit einem Mann gehen, dann als Partnerin, auf Augenhöhe. Vor zwanzig Jahren war ich am Fels immer die Exotin, eben die Frau. Jetzt bin ich einfach die Ines. Den jüngeren Frauen geht es aber ziemlich ähnlich. Weil sie viel selbstbewusster an die Sache rangehen.«

So stand das 2000 aus der Taufe gehobene, jeweils über drei Jahre laufende Förderprogramm des Deutschen Alpenvereins für die besten deutschen Nachwuchsbergsteiger den Frauen zwar selbstverständlich offen, doch nur die wenigsten trauten sich an das Sichtungscamp für diesen »Expeditionskader« heran. Die wenigen Bewerberinnen, die es riskierten, wurden von den Prüfern meist schweren Herzens abgelehnt – die männlichen Kollegen waren einfach besser. Irgendwann ging den Verantwortlichen ein Licht auf: Galten nicht in sämtlichen anderen Sportarten getrennte Wertungen für Männer und Frauen – Leichtathletik, Kampfsport, Mannschaftssport? Und auch im Wettkampfklettern? Also rief man schließlich den »Expeditionskader Frauen« ins Leben. Die Teilnehmerinnen berichten übereinstimmend, wie sie in einem rein weiblichen Umfeld mehr Selbstvertrauen entwickelten. Fast zwei Drittel absolvieren anschließend die Ausbildung zur staatlich geprüften Berg- und Skiführerin und haben, wenn sie wollen, schnell mehr Arbeit als die männlichen Kollegen.

Was am Bergsteigen auch immer als typisch männlich galt, es ist letztlich das einsame Fokussieren auf ein Projekt, das am Ende ja niemanden interessiert außer einem selbst. Alles Geld zusammenkratzen und das Auto verkaufen für eine Expedition an einen Berg, dessen Namen niemand kennt, oder die oft Jahre dauernden Versuche an kurzen Sportkletterrouten. Frauen haben da selten so viel Zeit und Nerven investiert wie die Männer – weniger Frustrationstoleranz, könnte man sagen, ebenso gut: weniger verbissen. Die französische Profikletterin Melissa Le Nevé etwa investierte sechs Jahre (!) Training und Versuche in fünfzehn Metern Fels im fränkischen Jura, hängte ihre Wettkampfkarriere an den Nagel, es war ihr alles wurscht, sie wollte diese Route: Action Directe 9a. 1991 war es die schwerste der Welt, heute lange nicht mehr. Heute klettern – wenn auch wenige – andere Frauen bereits die Schwierigkeitsgrade 9a+ und 9b, aber gerade, dass Le Nevé so lange probiert, so viel investiert, so viel Enttäuschung riskiert hat, bis es 2019 endlich gelang, gerade das zählt und inspiriert eigentlich noch mehr als andere weibliche High-End-Leistungen der letzten Jahre.

Im Dezember 2020 gelang der Tirolerin Angela Eiter mit ihrer Madame Ching 9b ein besonderes Highlight. Es ist die erste Route in diesem Grad, die eine Frau erstbegangen hat – und da die aktuell allerschwerste Tour der Welt mit 9c nur einen...