Der Bergdoktor 2061 - Was uns trennt ...

Der Bergdoktor 2061 - Was uns trennt ...

von: Andreas Kufsteiner

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2021

ISBN: 9783751707978 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Der Bergdoktor 2061 - Was uns trennt ...


 

Was uns trennt ...

Weil sie sein Schweigen nicht mehr ertrug

Von Andreas Kufsteiner

Silvia ist eine junge Frau mit festen Grundsätzen, und nicht zuletzt deshalb kann sich Justus vom Kirchwald-Hof keine andere an seiner Seite vorstellen. Vertrauen und Ehrlichkeit setzt sie bei jedem voraus, mit dem sie es zu tun hat. Erst neulich hat sie gemeint: »Wer mich belügt, hat keine Achtung vor mir. Ich weiß gar nicht, warum so viel gelogen wird. Die Leute halten sich gegenseitig zum Narren. Das ist entsetzlich. Irgendwann kommt doch alles ans Licht.«

Nicht alles, hofft Justus beschämt – und schweigt ...

Durch die halb geöffnete Eingangstür konnte Silvia die große Truhe im Flur sehen, von der es hieß, dass der Hofbesitzer und Großbauer Rupert Murner sie in mühevoller Arbeit selbst geschnitzt hatte. Das war nun schon fast zweihundert Jahre her. Das gute Stück war noch immer schön anzuschauen, wenn man von ein paar kleinen, abgeblätterten Stellen absah.

Damals hatte die Truhe viel Aufsehen erregt, weil Rupert sie mit Brautgaben für seine Angebetete, die Hoftochter Lena Merlander, gefüllt und ihr hernach mit einem Vierergespann vors Haus gefahren hatte. Verschiedene Stoffe und fein geklöppelte Spitzenborten für Bettbezüge, Tücher, gutes Geschirr und ein Kastl mit Familienschmuck hatten die recht wählerische Lena schließlich davon überzeugt, dass Rupert als Ehemann für sie ein Hauptgewinn sein würde.

Außerdem hatte es sie zu Tränen gerührt, dass Rupert sich mit der Truhe so große Mühe gegeben hatte, um ihr etwas ganz Persönliches zu schenken, etwas, das viele Jahre – und sogar Jahrhunderte – überdauern würde.

Die Ehe der beiden war sehr glücklich gewesen, so stand es jedenfalls in der Chronik des Kirchwald-Hofes. Zahlreiche Nachkommen hatten hernach dafür gesorgt, dass der stattliche Hof in St. Christoph über die Jahre hinweg als stolzer Familienbesitz erhalten geblieben und immer wieder verschönert worden war.

Die alte Truhe hätte so manches erzählen können. Aber sie bewahrte ihre Geheimnisse so gut auf, dass nichts durch ihre Zirbenholz-Wände drang.

Wer natürlich ein bisschen in der alten Chronik blätterte, erfuhr einiges über Hochzeiten, Taufen und andere Ereignisse im Leben der Familie Murner.

Doch was sich hinter den schützenden Mauern, in den Winkeln und Ecken, in den Stuben und im schattigen Grün des riesigen Gartens abgespielt hatte, stand nicht in dem ehrwürdigen Buch mit der feinen Goldprägung.

Es lag in der Truhe neben der kostbaren Familienbibel und wurde nur selten zur Hand genommen. Längst hatte man neue Bücher dazu gelegt, in denen immer nur kurz vermerkt wurde, was für den Hof und seine Bewohner wichtig war.

Es ließ sich nicht leugnen, dass schriftliche Aufzeichnungen bei den meisten Leuten aus der Mode gekommen waren. Man speicherte heutzutage alles in Computerdateien ab.

Immerhin war Justus Murner, der den Hof von seinen Eltern übernommen hatte, den alten Bräuchen nicht abgeneigt. Ein bisschen Nostalgie musste sein. Daher führte er eine Art »Hof-Tagebuch«.

Wer jedoch glaubte, dass er darin irgendetwas über sich selbst oder seine Gefühle verriet, der irrte sich.

Was ihn inwendig bewegte, wollte er nicht an die große Glocke hängen. Er behielt es für sich. Nur Silvia, die er über alles liebte, schaffte es manchmal, in sein Innerstes zu schauen. Aber zu selten, fand sie. Immer wieder musste sie feststellen, dass er sich in sein persönliches Schneckenhaus zurückzog und beharrlich schwieg. Ein Buch mit sieben Siegeln war gar nichts gegen dieses Schweigen.

Wenn ich nur wüsste, was in ihm vorgeht, dachte Silvia immer dann, wenn er wieder mal in seine eigene Gedankenwelt eintauchte und nicht ansprechbar war.

Aber sie musste sich wohl damit abfinden. Es sah nicht danach aus, dass er sich ändern würde.

Silvia stand immer noch an der Tür. Justus merkte es nicht, obwohl er sich im Flur zu schaffen machte. Er war gerade erst von einem Bergwacht-Einsatz zurückgekommen, zum Glück nichts Ernstes. Mit einem Kopfschütteln dachte er daran, was manche Leute unter einem »Unglück« verstanden.

Eine vermögende Dame aus Graz, von Beruf Sängerin und eine Freundin der musikliebenden Baronin von Brauneck, hatte sich verlaufen und war rittlings einen kleinen, harmlosen Hügel hinuntergerutscht, dabei hatte sie sich ein paar leichte Schürfwunden zugezogen und den Fuß ein bisschen verstaucht.

Die Folge: ein Notruf, Gejammer und viel Lärm um nichts. Die bodenständigen Bergwachtler hatten sich dennoch sehr um sie bemüht. Das vermeintliche Opfer der »tückischen Berge« wollte nach dem »Drama« eigentlich empört wieder abreisen, hatte sich dann aber in Dr. Burgers Praxis wieder sehr rasch beruhigt.

»Die Berge können nichts dafür, dass Sie sich verlaufen haben, gnädige Frau«, hatte der Doktor ihr in seiner ruhigen Art erklärt und hinzugefügt: »Bleiben Sie doch künftig auf den ausgeschilderten Wegen. Oder spazieren Sie entspannt rund ums Dorf. Wir haben hier viele, herrliche Aussichtswege. Ich an Ihrer Stelle würde nicht abreisen. Wir haben herrliches Wetter, der Frühling ist mild und angenehm, und Sie werden sich prächtig erholen. Hier ist es jetzt viel schöner als in Graz. Und außerdem wohnen Sie im Schlössl. Wenn das nicht ein besonderes Erlebnis ist, dann weiß ich nicht, was ich Ihnen sonst noch empfehlen könnte.«

»Wenn Sie mir das so charmant ans Herz legen, Herr Doktor ... und wenn Sie meinen Fuß noch ein Weilchen behandeln ...«

»Natürlich, Frau Rebenauer, so lange, wie es nötig ist. In zwei Tagen schauen wir uns das Ganze noch einmal an. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es sich nur um eine unproblematische Schwellung am Knöchel handelt. Die Spritze, die ich Ihnen vorhin gegeben habe, wird Ihnen rasch helfen.«

Justus hatte unabsichtlich mitgehört, denn er war in der Praxis geblieben, um Frau Rebenauer (»Ich kann ja keinen Fuß mehr vor den anderen setzen!«) zurück aufs Schlössl zu fahren. So waren sie eben, die Männer von der Bergwacht. Nicht nur mutig, sondern auch höflich.

Das Gespräch hatte im Vorraum der Praxis stattgefunden. Dr. Burger konnte sich bewundernswert auf jeden Patienten einstellen, egal, ob es ein hartgesottener Bergsteiger war oder eine etwas »zickige« Sopranistin.

Justus fragte sich, warum manche Leute es nicht begreifen konnten, dass man im Gebirge feste Schuhe anziehen musste, und zwar auch dann, wenn man nur ein bisserl herumkrauchte.

Frau Rebenauer war in offenen Schühchen mit glatten Sohlen unterwegs gewesen. Damit wäre sie wahrscheinlich überall ausgerutscht. Aber Hauptsache, die Schuhe waren schick und teuer.

Immerhin hatte sie angekündigt, der Bergwacht eine runde Summe für die schnelle »Rettung« zukommen zu lassen. Das hörte man freilich gern!

Justus kramte in seinem Rucksack. Irgendwo musste sein Portemonnaie sein. Ach ja, vielleicht in der Jackentasche. Klar, da war es. Viel war eh nicht drin, nur Kleingeld und ein paar Gutscheine, die eh schon ungültig waren.

Von der Tür her drang ein leises Lachen an sein Ohr.

Er blickte auf.

»Endlich!«, sagte Silvia vergnügt. »Ich hab schon gedacht, dass ich bis morgen hier stehe, ohne dass du mich bemerkst. Hallo, Justus. Darf ich in deine heiligen Hallen eintreten?«

»Das fragst du noch?« Er breitete die Arme aus. »Ich war ganz in Gedanken, mein Engerl. Hab dich gar nicht bemerkt. Verzeih mir. Hier bin ich, komm zu mir – und geh am besten nicht mehr fort!«

***

Dass sie nicht mehr gehen würde, konnte Silvia ihm natürlich nicht versprechen. Aber erst einmal gehörte der Rest des Tages nur ihm. Und sicher auch das Wochenende, wenn nichts dazwischen kam.

»Ich hab mir Sorgen gemacht«, gestand sie. »Was ist denn passiert? Wenn ich höre, dass du zu einem Einsatz musst, male ich mir immer schlimme Sachen aus.«

»Ach was, das musst du nicht.« Justus küsste sie zärtlich. »Ich weiß, wie ich mich am Berg verhalten muss. Der Einsatz vorhin war net der Rede wert. Eine Urlauberin aus Graz, die ausgerutscht ist und hernach ein Stück den Wiesenhang oberhalb vom Panoramaweg hinuntergerutscht ist. Die Bergwacht wäre für so etwas gar net zuständig, aber sie hat auf ihrem Handy einen Notruf abgesetzt. Na ja, was tut man nicht alles für so ein hilfloses Huhn. Sängerin ist sie, die Frau Rebenauer, und derzeit Gast auf dem Schlössl.«

»Was redest du denn da, Justus – ein hilfloses Huhn!« Silvia verkniff sich ein Lachen.

»Na ja. Ist ja net böse gemeint«, grinste Justus. »Ein bisserl flatterig ist sie nun mal, die Dame. Und ziemlich arglos, was unsere schöne Landschaft angeht. Da ist nun mal net alles kerzengerade und gepflastert wie in der Stadt. Wenn man in feinen Riemchenschuhen durch die Wiesen stolziert, muss man sich nicht wundern, dass man den Halt verliert und abwärts rollt. Aber wir Bergwachtler sind eben immer zur Stelle. Was täte man denn auch...