Dorian Hunter 62 - Horror-Serie - In der Gewalt der Schneemenschen

Dorian Hunter 62 - Horror-Serie - In der Gewalt der Schneemenschen

von: Neal Davenport

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2021

ISBN: 9783751708012 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Dorian Hunter 62 - Horror-Serie - In der Gewalt der Schneemenschen


 

1. Kapitel


Der Berg war sein Gegner und sein Freund. Er hasste und liebte ihn. Für ihn waren die Achttausender wie Frauen – manchmal sanft und freundlich, dann trügerisch und unberechenbar.

Angeblich sollte sein Vater ein versoffener Engländer gewesen sein, der seine Mutter, eine Inderin, in Gorakhpur kennengelernt hatte. Der Brite schwängerte sie, zog den Hut und verschwand für immer. Auch an seine Mutter konnte sich Yameshi nur undeutlich erinnern. Sie war eine sanfte, winzig kleine Frau gewesen, die selten gelacht hatte. Nach ihrem Tod war er nach Nepal zu Verwandten gebracht worden. Er wusste nicht einmal genau, wie alt er war; doch das war unwichtig. Aufgewachsen unter den Sherpas, hatte er schon in frühester Jugend Bekanntschaft mit den Bergen gemacht.

Der Schneesturm wurde noch heftiger. Irgendwo krachten gewaltige Eisbrocken ins Tal.

Yameshi lehnte sich gegen die Felswand. In den vergangenen zwanzig Jahren war er viel in der Welt herumgekommen. Man konnte ruhig sagen, dass er vermögend war. Er hätte es nicht nötig gehabt, sich hier aufzuhalten, doch die Berge des Himalajas ließen ihn nicht los. Er hätte sich irgendwo ein Haus kaufen und eine Frau heiraten können, doch er wollte es nicht; er liebte das Abenteuer, kämpfte gern. Sein ganzes Leben lang war er ein Kämpfer gewesen. Es war ihm gleichgültig, wer sein Gegner war – ein Tier, ein Berg oder ein Mensch. Gelegentlich hob er den Kopf und lauschte, doch außer dem wütend heulenden Sturm war nichts zu hören. Der Schnee hüllte seine angezogenen Beine wie ein Tuch ein.

Vor einigen Wochen hatte er sich einer Expedition angeschlossen, die auf der Suche nach dem Yeti war, jenem geheimnisvollen Schneemenschen, von dem kein Foto existierte. Die meisten Menschen hielten die Erzählungen über den Yeti für Märchen, doch Yameshi wusste es besser. Er selbst hatte einige Yetis erlegt. Früher hatte man sie oft gesehen, doch seit der Tourismus auch in diesem entlegenen Winkel der Erde boomte, hatten sich die Yetis zurückgezogen.

Bis jetzt hatte die Expedition in der Gegend des Mount Everest fünf Siebentausender untersucht, aber keine Spur eines Yetis gefunden. Doch vor zwei Tagen hatte ein Sherpa Glück gehabt: Im frisch gefallenen Schnee hatte er die Fußspuren eines großen Yeti entdeckt. Irgendwo in der Gegend mussten sich diese Kreaturen also aufhalten, und Yameshis Aufgabe war es, sie aufzuspüren. Geduldig wartete er auf das Nachlassen des Schneesturms. Um die vier Sherpas, die ihn begleiteten, machte er sich nur wenig Sorgen. Sie waren, so wie er, in den Bergen aufgewachsen und hatten unzählige Expeditionen begleitet.

Seine Gedanken irrten ab. Er dachte an Jeff Parker, der vor einigen Wochen plötzlich aufgetaucht war und sich der Expedition angeschlossen hatte. Jeff Parker war nur aufgenommen worden, weil er sich mit mehr als fünfzig Prozent an den Expeditionskosten beteiligt hatte. Yameshi hatte sich für ihn eingesetzt, als er erfahren hatte, dass Jeff Parker mit Dorian Hunter befreundet war. Yameshi grinste, als er an Dorian Hunter dachte. Er hatte ihn in Schweden kennengelernt, als er zusammen mit einigen anderen Abenteurern Elmar Larssons Auftrag, einen Werwolf zu jagen, annahm. Er hatte Erfolg gehabt – so wie immer in seinem Leben. Yameshi tötete den Werwolf und kassierte ein kleines Vermögen. Er hatte Hunter an der Prämie beteiligen wollen, doch dieser hatte abgelehnt. Yameshi gab Feodora Munoz einen Teil der Summe. Er dachte an die bildschöne brasilianische Mulattin, mit der er einige Zeit zusammengeblieben war.

Der Schneesturm ließ nach. Yameshi stand auf, lehnte sich gegen die Steilwand, klopfte sich den Schnee von den Kleidern und blickte sich um. Die Sicht war besser geworden. Das Heulen des Windes klang wie das Wehgeschrei von unzähligen klagenden Kindern.

Fünfzehn Minuten später war die Sicht so gut, dass Yameshi den Abstieg wagen konnte. Er ging an der Steilwand entlang, bis er den gewaltigen Gletscher erblickte. Der Wind blies in sein Gesicht und schleuderte ihm kleine Eisstücke entgegen. Er kam nur langsam vorwärts. Immer wieder blieb er stehen und blickte sich um. Von den vier Sherpas sah er keine Spur. Nur noch hundert Meter, dann hatte er den Gletscher erreicht. Er richtete sich auf, als er im schwachen Schneetreiben eine schemenhafte Gestalt erblickte.

»Hallo!«, brüllte Yameshi mit voller Kraft. »Hallo!«

Doch die undeutlich zu erkennende Gestalt reagierte auf sein Schreien nicht. Rasch ging er weiter. Einmal glitt er aus, fiel zu Boden und rutschte einige Meter den Abhang hinunter. Fluchend richtete er sich wieder auf. Die schemenhafte Gestalt war verschwunden.

Yameshi kniff die Augen zusammen. Er war sicher, dass die Gestalt keiner der Sherpas gewesen war. Dazu war sie zu groß und breitschultrig gewesen.

Er wandte sich nach links. Sicherheitshalber lud er seine Command Lady, die schwere Elefantenbüchse, durch. Er war überzeugt, dass er einen Yeti gesehen hatte. Vorsichtig schlich er weiter. Nach wenigen Metern wurde der Schneesturm wieder stärker, doch unbeirrt stapfte er durch den kniehohen Schnee. Ein lauter Schrei ließ ihn zusammenzucken. So schrie nur ein Mensch in höchster Lebensgefahr. Er beschleunigte sein Tempo. Keuchend hastete er vorwärts, die Waffe schussbereit in die Hüfte gestützt. Doch der Schnee fiel zu dicht ... Er konnte kaum etwas sehen. Plötzlich klaffte links in der Wand eine breite Spalte. Er zögerte einige Sekunden, dann betrat er die Öffnung. Nach wenigen Schritten wurde es dunkel. Er hatte eine Höhle betreten. Einmal wandte er den Kopf herum. Vor der Höhle fiel noch immer der Schnee in dichten Flocken, und auch in der Höhle war Schnee.

Yameshi bückte sich. Deutlich waren Fußabdrücke zu erkennen. Sie waren riesig, mindestens einen halben Meter lang und dreißig Zentimeter breit. Die Abenteuerlust trieb Yameshi tiefer in die Höhle hinein. Nach wenigen Schritten führte sie steil in die Tiefe. Es wurde immer dunkler. Yameshi holte seine Taschenlampe hervor und knipste sie an. Die Höhle war vielleicht drei Meter hoch. Die Wände waren mit Eis bedeckt. Nach zwanzig Schritten wurde es hell. Er steckte die Taschenlampe ein, trat aus der Höhle, blieb stehen und blickte sich um. Er hatte den Eindruck, dass er sich in einem kleinen Tal befand. Allzu viel konnte er nicht erkennen. Auch hier wütete der Schneesturm.

In den vergangenen Tagen hatten sie eingehend das ganze Gebiet abgesucht, dabei war ihnen aber die Höhle nicht aufgefallen. War es möglich, dass er zufällig den Schlupfwinkel der geheimnisvollen Schneemenschen entdeckt hatte? Die Sherpas munkelten viel von versteckten Höhlen und Schluchten, in denen die Yetis hausen sollten, doch nie hatte ein Mensch diese Schlupfwinkel gefunden. Sein Herz schlug rascher. Er überlegte, ob er weitergehen oder die Suche bei besserem Wetter fortsetzen sollte.

Allein kann ich kaum etwas unternehmen, dachte er. Es wird wohl besser sein, wenn ich zum Basislager zurückkehre.

Er wandte den Kopf herum, als er hinter sich ein Geräusch hörte, und riss das Gewehr hoch. Eine riesige, graue Gestalt trat aus der Höhle. In den gewaltigen Armen trug sie einen bewusstlosen Sherpa. Der Yeti blieb einen Augenblick stehen, dann ließ er den Bewusstlosen fallen und sprang auf Yameshi zu.

Yameshi warf sich zur Seite und drückte ab. Sein Schuss traf den Yeti in die rechte Schulter. Hellrotes Blut spritzte aus der Wunde – der Yeti stieß ein klagendes Winseln aus, erhob sich und ging wieder auf Yameshi los. Zwei weitere Schneemenschen stürmten aus der Höhle. Einer hatte ein dunkelbraunes Fell, während der andere fast schwarz war. Yameshi blieb keine andere Wahl. Er musste tiefer in die Schlucht hinunter. Der Zutritt zur Höhle war ihm versperrt. Er rannte los. Nach zehn Schritten verschluckte ihn der Schnee, nach hundert Metern blieb er stehen und lauschte. Deutlich hörte er die Schreie der Yetis, die ihn verfolgten. Keuchend stürmte er weiter. Er stolperte, fiel zu Boden, sprang auf und krachte mit dem Kopf gegen eine Wand. Benommen prallte er zurück.

Für einen Augenblick wurde das Schneetreiben schwächer. Yameshi hob den Kopf, und sein Mund öffnete sich vor Überraschung. Er stand vor einem gewaltigen Bauwerk, das einem Kloster ähnlich sah. Es war über und über mit Eis und Schnee bedeckt.

Er befand sich in etwa sechstausend Meter Höhe. Mit allem hätte er gerechnet, doch in dieser Höhe ein gewaltiges Bauwerk zu finden, das war eine echte Überraschung. Ein Schrei riss ihn in die Wirklichkeit zurück.

Eine gewaltige Tatze schlug ihm das Gewehr aus der Hand. Er taumelte, und mächtige Pranken griffen nach ihm. Verzweifelt schlug er um sich, doch die zwei Yetis, die ihn gepackt hatten, ließen nicht locker. Yameshi bekam einen Schlag in den Nacken und gleich darauf noch einen. Rote Kreise explodierten vor seinen Augen, dann brach er bewusstlos zusammen. Er fiel in den Schnee, und die Yetis umringten ihn.

Yameshi merkte nicht mehr, dass er hochgehoben und in das tempelartige Gebäude getragen wurde.

Es war ein strahlender schöner Maitag, an dem die Maschine der Nepal Airlines auf dem Tribhuvan International Airport landete. Unter den siebenundzwanzig Passagieren – hauptsächlich...