Neue Konstellationen der Gegenwart: Annäherungen, Institutionen und Legitimität

Neue Konstellationen der Gegenwart: Annäherungen, Institutionen und Legitimität

von: Corinne Michaela Flick

Wallstein Verlag, 2021

ISBN: 9783835346604 , 296 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Neue Konstellationen der Gegenwart: Annäherungen, Institutionen und Legitimität


 

Einführung


Liebe Convoco-Freunde,

als sich das Thema Neue Konstellationen der Gegenwart: Annäherungen, Institutionen und Legitimität entwickelte, waren die sich verändernden Formationen erst im Keim wahrnehmbar. Jetzt ist offensichtlich, wie sehr das Thema unsere heutige Welt und das neue Bewusstsein widerspiegelt. Durch COVID-19 sind die neuen Kooperationen und Verbindungen stärker zum Vorschein getreten, ein neues Gefühl der Solidarität findet transnationalen Ausdruck. Der Wert des Gemeinwohls ist deutlicher geworden und hat eine globale Ausprägung erhalten. Bezugspunkt ist nicht mehr ausschließlich der Nationalstaat. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht auch das Aufkommen starker nationaler Interessen beobachten. Diese gegensätzlichen Entwicklungen gehen Hand in Hand. Auf den ersten Blick scheinen sie sich auszuschließen, doch das Zusammengehören von Paradoxien ist ein entscheidendes Merkmal der neuen Zeit.[1]

Man kann immer mehr länderübergreifende Initiativen beobachten. Themen wie Klima, Umweltverschmutzung und Pandemien kennen keine Ländergrenzen und erfordern daher stärkere Kooperation der Weltgemeinschaft. Transnationale zivilgesellschaftliche Bewegungen sind Ausdruck eines neuen Verantwortungsgefühls sowie eines Bewusstseins für unsere gegenseitige Abhängigkeit. Auf staatlicher Ebene sehen wir neue Formen der internationalen Zusammenarbeit. Die globalen Strukturen befinden sich in Transformation. Während der Multilateralismus an vielen Stellen unter Druck gerät, entstehen neue Formationen des Plurilateralismus. So ist zum Beispiel unter der Führung von China im ostasiatischen Raum mit Indonesien und Australien die größte Freihandelszone der Welt, die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), entstanden.

Wir sehen vermehrt Partnerschaften zwischen Regierungen und privaten Akteuren in Bereichen, die ursprünglich hoheitlich waren. Die Zusammenarbeit von Staat und Unternehmen hat sich zum Beispiel im Bereich Cyber Security als unabdingbar herausgestellt. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) betätigen sich vermehrt in traditionell hoheitlichen Aufgabengebieten. Sie treten als Mediatoren in Konflikten auf, wo die Staatengemeinschaft zunehmend unfähig ist, Lösungen zu finden. »The new tech activist« ist ein bisher nicht dagewesenes Phänomen. Unternehmer wie Bill Gates oder Michael Bloomberg übernehmen globale Verantwortung für Themen wie Gesundheit oder Umwelt. An der Bill & Melinda Gates Foundation wird die zwiespältige Rolle vieler neuer Mitwirkender deutlich: einerseits als Brückenbauer, die vernetzen, andererseits als eigenständige Akteure, die die politische Agenda beeinflussen. Diese Handelnden beanspruchen eine aus ihrer selbstgesetzten Aufgabe hergeleitete Legitimation, »sei sie aus moralischer Autorität, Sachkenntnis oder kritischer zivilgesellschaftlicher Begleitung drängender Fragen wie der Energieversorgung oder des Schutzes der Umwelt«.[2]

Der UN-Generalsekretär António Guterres sprach mahnende Worte:

Die Nationen, die sich vor mehr als sieben Jahrzehnten durchgesetzt haben, haben sich geweigert, über Reformen nachzudenken, die zur Änderung der Machtverhältnisse in internationalen Institutionen erforderlich sind. […] Ein neues Modell für Global Governance muss auf einer vollständigen, integrativen und gleichberechtigten Beteiligung an globalen Institutionen beruhen.[3]

Für die Erneuerung unserer bestehenden Institutionen bedarf es der Staatskunst und Führungsstärke bei den Weltmächten. Mit Blick auf die zunehmend isolationistischen USA gibt es für die nahe Zukunft jedoch wenig Hoffnung, dass wir diese von der traditionellen Führungsmacht des Westens erwarten können. Eine Abkehr von Europa ist bereits seit der Amtszeit von Präsident Obama zu beobachten. Diese Situation bietet allerdings Europa die Chance, das Vakuum zu füllen und mehr globale Verantwortung zu übernehmen, vorausgesetzt Europa schafft es, verstärkt geschlossen aufzutreten. Es gibt viele Ansätze, wie Europa zu mehr Kooperation gelangen kann, nun gilt es, diese Ideen umzusetzen.

Institutionen sind ein wichtiger Faktor für eine stabile Weltordnung. Sie sind Instrumente der Kooperation. Institutionen verbinden einen langfristigen Zweck mit einem Verständnis von Gemeinwohl und schaffen ein kollektives Verantwortungsbewusstsein.[4] Sie bündeln die Erfahrungen vieler über Generationen hinweg und wandeln das Gegensätzliche in ein Einheitliches um. Institutionen sind daher ein wichtiges Werkzeug für die Zivilisierung der Welt. Soll heißen, für eine Welt, in der unterschiedliche Kulturen gleichwertig nebeneinander bestehen, die sich gemeinsamen Regeln verschreibt und auf universelle Zusammenarbeit setzt – und die erkennt, dass man einen Hegemon nicht braucht. Die Beiträge in diesem Band argumentieren, dass sich unser Weltverständnis dahin entwickeln sollte. Die durch die Pandemie ausgelöste Krise kann uns dabei helfen, denn in jeder Krise liegt auch eine Chance. Deutlich wird durch die Pandemie, wie unser eigenes Wohlergehen von dem Wohlergehen der anderen abhängt.

Im Jahr 1986 beschrieb der Soziologe Ulrich Beck den Weg in eine neue Moderne. Er sprach von einer Risikogesellschaft, die sich aufgrund gemeinsam geteilter Risiken zusammenfindet. Für Ulrich Beck entsteht damit eine Solidarität aus Angst. Der Makrosoziologe Heinz Bude spricht von einer Solidarität aus dem Gefühl der Verwundbarkeit, die aus einer Erfahrung wie der Bedrohung durch das Virus kommt.[5] Solidarität kann uns eine Basis für den Überbau der Interessensgegensätze und der kulturellen Unterschiede bieten. Die Universalität und Übernationalität der heutigen Herausforderungen kann zu einer weltweiten Solidargemeinschaft führen.

Vermehrt blitzt dieses universale Gefühl der Solidarität bereits auf. Es entsteht aus der Erkenntnis unserer gemeinsamen Menschlichkeit, die über Nationen, Zugehörigkeiten und Religionen hinausgeht und Mitgefühl für das Leid unserer Mitmenschen hervorruft. Konkret zeigt sich diese Solidarität in der internationalen Hilfe bei Naturkatastrophen, in der Strafverfolgung von Verstößen gegen Menschenrechte oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie in der globalen Empörung über die ungesetzliche Tötung von schwarzen US-Amerikanern durch die Polizei. Dieses Gefühl der Solidarität begegnet uns mehr und mehr. Wir erfahren es auch in den vielen Bestrebungen nach transnationaler Gleichheit und Gerechtigkeit.

Es geht um eine neue inklusive Solidarität und nicht um eine sich nach außen abgrenzende Solidarität nach dem Motto »wir gegen den Rest der Welt«. Heinz Bude nennt Solidarität »das Rätsel einer eigentümlichen Komplizenschaft, die keinen festen Grund, aber eine existenzielle Erfahrung für sich in Anspruch nehmen kann«.[6] Wichtig dabei ist die Erkenntnis, dass zu einer weltweiten Solidargemeinschaft neben dem Menschen auch die Tier- und Pflanzenwelt gehört, dass die Zeit der Ausbeutung der Natur zu einem Ende kommen sollte. Hier ist ebenfalls ein Transformationsprozess im Gang, der sich immer deutlicher im globalen Wechsel zu erneuerbaren Energien zeigt und der sich transnational im CO2-Zertifikatehandel niederschlägt. Denn die Alternative ist ein neues Zeitalter des Artensterbens, das womöglich sogar die Menschheit umfasst.

Dass der Weg zu universaler Kooperation sich auch konfliktreich gestalten könnte, zeichnet sich bereits ab. Es ist fraglich, ob die unilaterale Weltordnung der letzten Jahrzehnte weiterhin gültig ist. Ist unsere Welt inzwischen bipolar oder eher multipolar? Sind wir auf dem Weg in ein »post-hegemonisches« Zeitalter? Dass es uns schwerfällt, eine Antwort auf diese Fragen zu finden, ist bereits Beweis genug, dass etwas Neues im Entstehen ist. Das Virus agiert derweil als Katalysator der Transformation. COVID-19 bringt die Gefahr mit sich, die bestehenden Ungleichheiten der Welt zu verschärfen. Regionen, in denen bereits vor der Pandemie Hunger und Armut herrschten, könnten in ihrer Entwicklung noch weiter zurückfallen und ihre Gesellschaften würden vulnerabler werden. Damit würde sich die bereits bestehende Kluft zwischen den Ländern vergrößern, und es steigt die Gefahr, dass die Welt auseinanderfällt. Das kann aber in niemandes Interesse liegen. Heutige Herausforderungen verlangen nach den neuen und erweiterten Kooperationsformen, wie sie im Entstehen sind. Sie sind getragen von einem wachsenden Gemeinwohlverständnis.

 

Corinne Michaela Flick, im Januar 2021

Anmerkungen


1      Convoco Notes, Wie ist der heutige Nationalismus zu verstehen, Newsletter 4. 10. 2020, https://mailchi.mp/1c8b4f587213/cuso7qcxlg-4449318, abgerufen am 8. 12. 2020.

2      Stefan Korioth, »Legitimität in der neuen Weltordnung«, in diesem Band, S. 49.

3      António Guterres, Tackling the inequality pandemic: a new social contract for a new era, Nelson Mandela Annual Lecture, New York 2020, https://www.nelsonmandela.org/news/entry/annual-lecture-2020-secretary-general-guterress-full-speech, abgerufen am 29. 10. 2020.

4      Roger Scruton, Sein und Sein-Lassen, in: Tun oder Nichttun – Zwei Formen des Handelns, hg. von Corinne Michaela Flick, Göttingen 2015, S. 43-45.

5      Heinz Bude und Corinne Flick,...