Verstörende Beziehungen (Leben Lernen, Bd. 325) - Psychische Erkrankungen in Familien

Verstörende Beziehungen (Leben Lernen, Bd. 325) - Psychische Erkrankungen in Familien

von: Christian Stadler, Andrea Meents

Klett-Cotta, 2021

ISBN: 9783608116915 , 294 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 31,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Verstörende Beziehungen (Leben Lernen, Bd. 325) - Psychische Erkrankungen in Familien


 

Kapitel 1

Einleitung


»Etwas ist seltsam mit unserer Familie, aber ich kann nicht genau sagen, was …« So beschreiben sowohl Eltern als auch Kinder häufig die Beziehungsqualität, die vorherrscht, wenn ein oder beide Elternteile an einer psychischen Erkrankung oder Störung leiden. Es entsteht häufig eine lebenslange Bindung von beiden Seiten, die sich aber meist nicht gut anfühlt und kaum regulieren, geschweige denn angemessen weiterentwickeln oder lösen lässt. Betroffene Kinder fühlen sich ihren Eltern(teilen) verpflichtet, können sich nicht gut abgrenzen und erleben sich auch noch im Erwachsenenalter defizitär, weil sie aus einer dysfunktionalen Familie stammen. Betroffene Elternteile werden neben ihren psychischen Schwierigkeiten oder Störungen durch Scham- und Schuldgefühle umgetrieben, können aus Angst meist schwer Hilfe für ihre Familie und Kinder annehmen und lassen ihre Kinder selbst im Erwachsenenalter nicht gerne ihrer Wege ziehen. Aus diesen und anderen Gründen treten betroffene Familien erst dann mit dem Helfersystem in Kontakt, wenn die Not schon sehr groß ist und es zum Beispiel um Fremdunterbringung von Kindern geht. Auch die angehörigen Elternteile erleben sich zwischen den Stühlen, verhalten sich zum Teil co-abhängig und versuchen, die Defizite des betroffenen Elternteils zu kompensieren, im ungünstigen Fall wenden sie sich vom »Problem« ab. Die bekannte US-amerikanische Familienserie Taras Welten (2009) gibt einen Einblick in die täglichen Kämpfe, die eine Familie mit einer Mutter, die an einer dissoziativen Identitätsstörung leidet, zu durchlaufen hat. Manchmal gelingt ein offener, situationsadäquater und sogar humorvoller Umgang, manchmal ist die Belastung für das Gesamtsystem enorm hoch.

Das ökologische Modell von Bronfenbrenner (1981) zeigt, wie eine psychische Störung in einen Gesamtkontext eingebettet ist (Abbildung 1). Danach müssen die Auswirkungen von Störungen und Erkrankungen eines oder beider Elternteile immer eingebettet in einen Gesamtkontext betrachtet werden.

Abbildung 1: Störungen im ökologischen Kontext (nach Bronfenbrenner 1981)

Wir wollen in diesem Buch aus dem ökologischen Modell einen Ausschnitt herausgreifen, nämlich die Frage, welchen Einfluss eine psychische Störung innerhalb des Systems Mehrgenerationenfamilie auf das System der Gegenwartsfamilie und besonders auf die Kinder ausübt (Abbildung 2). Dies kann selbstverständlich nicht pauschal beschrieben werden, sondern ist abhängig von den jeweiligen Störungen und auch von den Persönlichkeitsmerkmalen der betroffenen Menschen sowie von deren Netzwerken, Netzwerkqualitäten und Ressourcen.

Abbildung 2: Störung, Familie und Mehrgenerationenperspektive

In der klinischen familienpsychologischen Literatur werden vier Risikofaktoren für die psychische Gesundheit von Kindern in Familien genannt (Bodenmann 2016, S. 25):

  • psychische Störungen der Eltern,

  • elterliche Sensitivität,

  • elterliches Erziehungsverhalten,

  • Partnerschaftsstörungen.

All diese Faktoren haben einen Einfluss auf die gesunde Entwicklung der Kinder, manche direkt, andere indirekt. Alle sind aber streng genommen nicht voneinander zu trennen, sie beeinflussen sich jeweils wechselseitig. Bodenmann (2016) zeigt dies beispielsweise für den Zusammenhang von Partnerschaft und Wohlbefinden beziehungsweise psychischer Störung. Liegen deutliche Partnerschaftsstörungen vor, haben sie einen wesentlichen Einfluss auf das Wohlbefinden der Kinder.

Partnerschaftsstörungen können zu mangelnder Sensitivität der Eltern führen, aber sie beeinflussen in aller Regel auch das Erziehungsverhalten. Kinder, die Zeugen elterlicher Auseinandersetzungen geworden sind, können durch diese Situationen direkt traumatisiert werden. Indirekt sind die Kinder betroffen, da eine bidirektionale Wechselwirkung von Partnerschaftsqualität und psychischer Störung vorliegt.

Auch das Konzept der »We-Disease« (Kayser et al. 2007) betont den Aspekt, dass eine schwere Krankheit oder psychische Störung eines Partners einen deutlichen Einfluss auf beide PartnerInnen hat (Interdependenz). Es liegt nahe, den Begriff der We-Disease auf das gesamte Familiensystem auszuweiten; eine psychische Störung eines Elternteils hat einen Einfluss auf alle in der Familie, nicht nur auf das Elternpaar. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern vielmehr darum, ein Verständnis für die »zirkuläre Kausalität« (von Schlippe & Schweitzer 2007, S. 90) zu erzeugen. Das Modell geht davon aus, dass Teile eines Systems wechselseitig aufeinander einwirken.

Allgemein gibt es zahlreiche Stressoren für die psychische Stabilität und Gesundheit von Kindern. Dazu gehören:

  • Umzüge,

  • schwere Störung oder Erkrankung eines Elternteils oder beider Eltern (somatisch und psychisch),

  • Tod eines Elternteils,

  • Behinderung eines Elternteils,

  • Arbeitslosigkeit eines Elternteils,

  • Inhaftierung eines Elternteils,

  • Migration eines Elternteils.

Innerhalb der Familien wirken sich nicht nur Störungen auf die Kinder aus, dort werden selbstverständlich auch viele Ressourcen erworben.

Das Thema negativen elterlichen Einflusses auf die psychische Stabilität und Gesundheit der Kinder kam auf, als psychisch auffällige oder kranke Kinder und deren familiäre Lebenssituationen untersucht wurden. Bevor die »Familienbrille« aufgesetzt wurde, gerieten in der Denktradition der frühen Freud’schen Psychoanalyse vor allem die Mütter in den Blick, denen eine Schuld an den Störungen ihrer Kinder zugewiesen wurde. Die schizophrenogene Mutter (Fromm-Reichmann 1948; s. Kapitel 2) befreite die psychischen Erkrankungen, vor allem die Schizophrenie, zwar aus den deterministischen Fesseln der Biologie und der Unbehandelbarkeit, aber sie stand noch ganz in der Tradition der Suche nach Schuldigen.

Winnicotts Ansatz der good enough mother (2002) nahm zwar etwas Druck von den Schultern der Mütter, blieb aber immer noch auf sie als zentrale Personen fixiert. Die Mütter mussten nun nicht mehr perfekt sein, damit ihre Kinder gut gediehen, sondern nur noch gut genug. Auch die aus der frühen systemischen Familienpsychologie abgeleitete Double-Bind-Hypothese1 (Bateson et al. 1956) schwächte die psychiatrischen Biologismen; Krankheit wurde verstehbar und blieb nicht länger nur genetisches Schicksal, die Verantwortung aber wurde den Eltern, und auch hier besonders den Müttern, zugewiesen. Wird in einer Familie falsch kommuniziert, wird das Kind krank. Ein logischer weiterer Schritt war die Sicht auf das Kind als »Indexpatient« aus der Systemtheorie: Nicht das Kind ist krank, sondern das System Familie, aber das Kind zeigt dem System seine Schwachstelle. Mittlerweile haben sich sowohl das bio-psycho-soziale Modell als auch ein Modell der wechselseitigen Interdependenzen durchgesetzt.

Pedersen und Revenson haben mit ihrem familienökologischen Modell (2005) die Zusammenhänge in einem Schaubild verdeutlicht (Abbildung 3).

Abbildung 3: Familienökologisches Modell (Pedersen und Revenson 2005, S. 405)

Erst seit der zusätzlichen Einbeziehung der transgenerationalen Perspektive (siehe Kapitel 8) hat auch die Schuldfrage etwas an Dynamik verloren, und seit dank feministischer Impulse auch die Väter als relevante Elternteile wahrgenommen werden und ihre Familienrollen einnehmen, wird deutlich, dass bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung alle leiden und betroffen sind und daher Hilfe brauchen. Es ist nun in einem umfassenden Sinne eine We-Disease-Thematik geworden.

Wir wollen zunächst einen Blick auf einige Zahlen werfen, die den Zusammenhang elterlicher und kindlicher Störungen...