Liebe den ersten Tag vom Rest deines Lebens - Zehn Einsichten Sterbender, die uns erfüllter leben lassen

Liebe den ersten Tag vom Rest deines Lebens - Zehn Einsichten Sterbender, die uns erfüllter leben lassen

von: Johanna Klug

GRÄFE UND UNZER, 2022

ISBN: 9783833886942 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Liebe den ersten Tag vom Rest deines Lebens - Zehn Einsichten Sterbender, die uns erfüllter leben lassen


 

Johanna und der Tod


Über Nacht hatte es gefroren und die vereinzelten Regentropfen hatten den Boden in eine rutschige Fläche verwandelt. Eiskristalle hingen in den Sträuchern und Gräsern, wie kleine Gondeln, die sich aufmachten für eine letzte Fahrt ins Ungewisse, bevor der Winter kam. Ein Postauto bremste scharf, eilig wurden Päckchen und Briefe verteilt. Ich schreckte kurz hoch. Dann wieder Stille, bis mein Wecker um halb sechs klingelte. Schlaftrunken griff ich ins Leere. Der Alarm piepste unerbittlich weiter. Mit einem Stöhnen richtete ich mich auf und strich mir durch meine langen Haare. Ich gähnte, rieb mir die Augen und befreite mich aus meiner Bettdecke. Dann steuerte ich Richtung Bad. Zähne putzen, Wasser ins Gesicht, Haare kämmen – all das geschah so automatisch und routiniert, dass ich in Gedanken weiterschlafen konnte.

Auf dem Badewannenrand lagen eine alte, ausgebeulte graue Jeans und ein Shirt mit einem großen Zebraprint. Früher hatte ich die Sachen gerne angezogen, jetzt waren sie ausgewaschen und verblichen. „Für die Arbeit reichen sie noch aus“, dachte ich mir immer wieder, wenn meine Mutter verständnislos über meine Kleidungswahl den Kopf schüttelte. Ich schlüpfte in die steife Jeans und verschwand dabei in den viel zu großen Klamotten. 

Manchmal fuhr mich mein Vater zur Arbeit ins Pflegeheim. Doch an diesem Tag düste ich mit meinem Fahrrad den Berg hinunter. Meine Eltern schliefen noch – es war schließlich Wochenende. Die kalte Winterluft strich mir ums Gesicht, betäubte Nase und Hände. Das Rad parkte ich vor einem bedrohlich wirkenden grauen Bunker: das Pflegeheim, in dem ich neben der Schule arbeitete. Die automatisierten Glastüren glitten zu beiden Seiten auseinander, als ich mich ihnen näherte. Sofort prallte ich gegen eine Wand aus Desinfektionsmitteln und allerlei Gerüchen: Urin, verkochtes Gemüse und ein Hauch von Tod. Die Neonlampen warfen mit ihrem grellen Licht einen bedrohlichen Schatten auf mich. Ich eilte die Treppenstufen hinauf in den zweiten Stock. Das Licht der Neonröhren verfolgte mich. 

Den Speiseraum der Station 2 erreichte ich gerade noch rechtzeitig kurz vor Beginn meiner Schicht um halb sieben. Meinen kleinen Rucksack warf ich auf die Wasserkästen in der Ecke, dann band ich mir die Haare ordentlich zu einem Zopf und griff nach einer Schürze, die bereits an einem Haken hinter der Tür hing. Ich stemmte die Hände in die Hüften, atmete tief durch und schloss dabei kurz meine Augen.

Mit einem kleinen silbernen Essenswagen polterte ich durch die Gänge zum Fahrstuhl, um das Frühstück zu holen. Die Küche befand sich im Keller des Gebäudes. Braune Fließen aus den 60er-Jahren zierten die Wände und schienen mich mit jedem weiteren Schritt zu verschlucken. Auf einem kleinen Tisch stapelte sich schon das labbrig weiße Toastbrot, jede Scheibe akribisch abgezählt. Daneben ein Eimer mit Marmelade und drei Pack Butter. Manchmal sah ich Mitarbeitende aus der Küche umherflitzen, aber meistens war es hier unten ruhig. Einmal traf ich den Koch, der mir lachend auf die Schulter klopfte und sagte: „In der Kühlkammer lagern wir nicht nur das Essen, sondern auch die Toten.“ Ich sah ihn mit großen Augen an und drehte mich wortlos um. „Das war doch nur ein Spaß Mädchen“, rief er mir hinterher, aber ich wechselte kein Wort mehr mit ihm. Lieber tot in der Kühlkammer als lebendig vegetierend auf den Stationen der Pflegeheime, dachte ich mir, als ich mich wieder im Aufzug nach oben befand.

Zurück auf der Station wurden schon die ersten alten Menschen in den Speiseraum gefahren und dort von den Pflegekräften stehen gelassen. Sie wirkten verloren in diesem Raum, der mit drei achteckigen Holztischen ausgestattet war. Ein großer Fernseher in der Ecke, mehr Einrichtungsgegenstände gab es nicht. Ich spürte die Einsamkeit der alten Menschen, die den ganzen Raum ausfüllte. Schlaftrunken und verwirrt starrten sie an leere weiße Wände und träumten wohl von einer Zeit, in der sie noch frei und selbstständig lebten. Aber waren wir das jemals? Auf einmal ertönte laute Schlagermusik aus den Musikboxen und ich schrak zusammen. Pflegerin Anke hatte den Musikknopf gedrückt, grinste und schlenkerte dabei mit den Armen. Die Senior*innen starrten weiter an die Wand, völlig unbeeindruckt waren sie in ihrer ganz eigenen Welt versunken.

Der Toast fiel fast von allein aus der Plastiktüte. Ich bestrich die brotähnliche Substanz mit weicher Margarine und verteilte darauf einen Löffel Erdbeermarmelade. Dabei vermischte sich beides zu einer gelbroten Masse. Ich musste daran denken, wie wütend es mich als Kind gemacht hatte, wenn diese Ebenen sich miteinander vermischten. Damals. Jetzt war es mir egal.

Vier diagonale Schnitte und aus einer Scheibe waren mehrere kleine Stücke geworden. Die Namensschilder der Bewohner*innen standen auf der Fensterbank. Jede*r hatte eigene Wünsche und Bedürfnisse für das Frühstück. Viele konnten nur noch Häppchen essen. Andere wiederum bekamen ihr Frühstück mit einem Tablett auf ihr Zimmer gebracht und durften ihre Brote eigenhändig bestreichen. War das bereits der letzte Akt von Selbstbestimmung: das eigene Essen zu essen? 

Ich dickte den Milchkaffee in kleinen Schnabeltassen an und in der milchig-braunen Flüssigkeit bildeten sich schnell Klumpen, die ich dann wieder zu einer glatten Masse rührte. Eine halbe Stunde stand die ganze Küche voller Marmeladenbrote und angedicktem Kaffee. Die Pflegekräfte hatten fürs Erste ihre Arbeit erledigt. Alle Senior*innen waren aus ihrem Schlafanzug in frische Klamotten gesteckt und in dieser Montur in den Speiseraum gebracht worden.

„Also mal ganz ehrlich, Luise hat sich heute mal wieder benommen. Ständig zieht sie sich wieder aus und hält einfach nicht still. Nervig.“ Anke verdrehte die Augen, schnappte sich eine Tasse und schüttete sich mehr Milch als Kaffee hinein. Mit einem großen Zug ließ sie die Flüssigkeit in ihren gierigen Mund laufen, stellte mit einem leisen Rülpser die Tasse auf die Fensterbank, drehte sich um und verließ die Stationsküche, ohne mir Beachtung zu schenken. Ich blickte ihr verwundert hinterher. Hatte sie gerade mit mir gesprochen? Ich strich meine verklebten Hände an der Schürze ab und bemerkte erst jetzt die roten Marmeladenflecken.

Anke war eine der Pflegekräfte, die zu allem eine Meinung hatte und gern redete – am liebsten über ihre Senior*innen. Sie quasselte, wenn es ihr passte, ohne ihrem Gegenpart Beachtung zu schenken. Es floss einfach aus ihr raus und wenn sie sich gedanklich entleert hatte, war sie so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Anke war eine gute Pflegekraft, zumindest war sie davon fest überzeugt, wenn sie die Senior*innen fütterte, wusch und umzog. Diese Routine hatte sie so verinnerlicht, dass sie auf mich so wirkte, als folgte sie nicht länger ihrem Gespür, sondern einer inneren Checkliste.

Als ich von meiner kleinen Zimmertour zurückkam und allen Bewohner*innen die Frühstückstabletts gebracht hatte, saß Trude bereits auf ihrem Stuhl und schaute mich neugierig an. Die Augen hatte sie etwas zusammengekniffen und den Kopf seitlich gelegt. Aufmerksam verfolgte sie jede meiner Bewegung. „Na Trude, hast du gut geschlafen?“, fragte ich sie und strich ihr sanft über den Handrücken. „Hijaaaaaa“, quakte sie und ihre Stimme klang dabei wie ein kleines Entlein. Ich stellte ihr einen Schnabelbecher mit Kaffee und ein geschnittenes Marmeladenbrot auf den Tisch. Hungrig griff sie nach einem Toaststück, packte dabei aber mitten in die Marmelade hinein. Sie grinste und leckte sich die roten Finger. „Das ging daneben Trude“, schmunzelte ich und schob ihr sanft ein Stück in den weit geöffneten Mund. Genüsslich kauend tätschelte sie meine Hand und hielt sie plötzlich ganz fest. „Nicht doch“, sagte ich und kniete mich zu ihr, „ich muss jetzt noch weiterarbeiten.“ Ihre strahlend blauen Augen in ihrem faltigen Gesicht blickten mich lange an. Sie sagte kein Wort. Dann ließ sie los und ich flitzte weiter. 

Peter


Ein Tablett auf dem Wagen war noch übrig. Ein Kaffee, zwei Roggenbrote, Butter und Marmelade warteten darauf, von Peter verspeist zu werden. Er war immer der Letzte. Der Gang, auf dem Peter wohnte, wirkte auf mich bedrückend, nahezu unheimlich. Kurz hinter seiner Zimmertür hinten waren der Abstellraum und die Putzkammer, wo oft geraucht wurde. Das Licht flackerte wild vor sich hin.

Die Zimmertür war nur leicht angelehnt. Ich klopfte zaghaft und trat ein. „Guten Morgen“, sagte ich und setzte dabei mein strahlendstes Lächeln auf. In dem Zimmer war es düster und muffig. Die Vorhänge waren zugezogen, nur das Sauerstoffgerät gluckste munter vor sich hin. Peter ignorierte mich. „Wo soll ich das Frühstück hinstellen?“ Wieder keine Antwort. Ich fühlte mich auf einmal fehl am Platz, wusste nicht wohin mit meinen Händen, obwohl die ja fest am Tablett klebten, und überhaupt wäre ich gerade vor Scham am liebsten im Boden versunken. Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand, aber irgendwann konnte ich endlich meine Hände und Füße wieder spüren. Abrupt stellte ich das Tablett auf den kleinen Tisch, drehte mich und verließ – ja, eigentlich rannte ich aus dem Zimmer. Mein Herz pochte laut. Ich spürte es in der Brust, es dröhnte in meinen Ohren, meine Fingerspitzen kribbelten. „Ich geh da nie wieder rein“, dachte ich mir und wusste gleichzeitig, dass ich es doch tun musste. Wem sollte ich denn erzählen, dass ich Angst vor Peter hatte? Und wie sollte ich es überhaupt erklären: Hatte ich Angst vor Peters Schweigen, seinem dahinsiechenden, fast leblosen und trotzdem lebendigen Körper, der sich vom Bett zum Rollstuhl bewegte, mich komplett ignorierte und mir ganz klar zu...