Mein sensibles kleines Wunder - Wie Eltern von High Need- und Schrei-Babys gut für ihr Kind und sich selbst sorgen

Mein sensibles kleines Wunder - Wie Eltern von High Need- und Schrei-Babys gut für ihr Kind und sich selbst sorgen

von: Marei Theunert

GRÄFE UND UNZER, 2022

ISBN: 9783833886355 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Mein sensibles kleines Wunder - Wie Eltern von High Need- und Schrei-Babys gut für ihr Kind und sich selbst sorgen


 

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DAS WICHTIGSTE ZUERST


»Alle Babys brauchen Nähe, manche aber deutlich mehr. Daran ist keiner schuld.«

ANDERS ALS GEDACHT


Wenn Eltern ein Baby bekommen, sind sie in der Regel voller Vorfreude und Energie. Sie freuen sich darauf, ihr Baby im Arm zu halten und es in den Schlaf zu wiegen. Stellt das eigene Baby sich als besonders sensibel heraus, verändert sich dieses Bild relativ schnell und der Alltag wird zum Balanceakt. Ein Baby, das dauerhaft unzufrieden wirkt, viel schreit und schlecht in den Schlaf findet – damit rechnen die wenigsten Eltern.

Schließlich präsentiert die Werbung uns das Gegenteil: Babys, die selig in ihren Bettchen schlafen, freudig ihren Brei essen und quietschfidel unter dem Spielbogen vor sich hin glucksen. In dieser Idylle ist kein Platz für unzufriedene Babys, die nur in den Schlaf finden, wenn sie auf Mamas Arm stundenlang durch die Gegend getragen werden.

Nach einigen Wochen intensiven und ständigen Kümmerns fühlen sich viele Eltern überfordert und erschöpft – und das ist vollkommen verständlich! Sie wollen ihrem Baby helfen, wissen aber mit der Zeit nicht mehr weiter und stoßen an ihre physischen und emotionalen Grenzen. Sie bekommen das Gefühl, ganz allein mit der Situation zu sein, fragen sich, was sie falsch machen, und sind frustriert und eventuell wütend.

Du bist nicht allein


Im Durchschnitt werden in Deutschland täglich 2200 Babys geboren. 20 Prozent aller Neugeborenen schreien in den ersten drei Monaten deutlich mehr als drei Stunden am Tag und erfüllen damit die Definition eines Schreibabys (siehe >). Während bei vielen das exzessive Schreien nach 10 bis 14 Wochen von allein aufhört, sind acht bis zehn Prozent der Babys auch über die drei Monate hinaus unzufrieden, lassen sich schwer ablegen und weinen oft. Das bedeutet, dass jedes zehnte Paar Eltern eines sehr sensiblen Babys wird oder anders gesagt: Jeden Tag kommen in Deutschland über 200 Babys als sogenannte High-Need Babys zur Welt. Gar nicht mal so wenig, oder?

Viele dieser Eltern fangen in den ersten Monaten an, sich immer mehr zurückzuziehen. Oft haben sie das Gefühl, dass die Umwelt sie nicht versteht und vielleicht sogar verurteilt. Vielleicht entsteht auch Neid auf die Eltern, deren Kinder bei einem Spaziergang mit dem Kinderwagen entspannt einschlafen. Darüber hinaus werden sensible Babys oft schnell durch ihre Umwelt überreizt. Die Familien ziehen sich aus diesem Grund bewusst noch mehr zurück: Sie wollen ihr Kind auf keinen Fall überstimulieren.

»Am Ende saß ich den halben Tag in einem abgedunkelten Zimmer«, erzählt mir Julia, Mutter eines sensiblen Babys. »Ich hatte das Gefühl, dass meine Tochter ständig von Reizen überflutet wurde. Ich wollte sie beschützen. Doch mit jedem Tag ging es mir schlechter. Ich vermisste meine Freunde.«

Das alles führt dazu, dass Eltern sensibler Babys häufig das Gefühl haben, etwas falsch zu machen, und sich deswegen zurückziehen. Sie befürchten, als Eltern zu versagen, und entwickeln Schuldgefühle.

Keiner ist schuld

Wie kommt es, dass manche Babys temperamentvoller, sensibler und anhänglicher sind als andere? Warum liegen manche Babys den halben Tag zufrieden in ihrer Wiege, schlafen und wachen nur kurz auf, um gefüttert zu werden, während andere den ganzen Tag von ihren Eltern herumgetragen werden (müssen), um überhaupt zur Ruhe zu kommen?

Bei sensiblen Babys zeigt sich, dass die Verbindung zwischen Amygdala, das ist unser Gefahrendetektor im Gehirn, und der rechten Gehirnhälfte, dem Sitz unseres Furcht-, Stress- und Panikzentrums, stärker ausgeprägt ist. Prof. Jerome Kaga von der Harvard University untersuchte die unterschiedlichen Temperamente von Kindern und vermutete durch diesen Zusammenhang, dass sensible Babys schnelleren Zugriff auf diese Gefühle haben als auf Emotionen wie Freude, Interesse und Zuneigung, die eher in der linken Gehirnhälfte verankert sind. Insgesamt scheint die Amygdala von sensiblen Babys deutlich aktiver zu sein, was zu starken, emotionalen Erregungen führen kann. Zusätzlich ist der Vagusnerv, der für die Beruhigung zuständig ist, eher schwach ausgeprägt. Das führt dazu, dass diese Kinder Eindrücke relativ ungefiltert aufnehmen und schnell überreizen. Diese Erkenntnisse zeigen, dass Babys bereits mit einem bestimmten Temperament zur Welt kommen.

Das Gute ist: Diesen Zustand müssen Familien nicht einfach hinnehmen. Durch liebevolle Betreuung und zeitnahe Unterstützung können Eltern ihr Kind stärken und haben dadurch täglich Einfluss auf die Selbstregulationsfähigkeit ihres Kindes. Denn das Gehirn wächst besonders in den ersten Monaten enorm schnell und verändert sich damit. Durch viel Nähe, Sicherheit und Bindung kann die Erregbarkeit der Amygdala abnehmen, Begleitung, Fürsorge und Trost stärken zusätzlich den Vagusnerv. Das wiederum hilft dem Baby kontinuierlich dabei, Fähigkeiten zu entwickeln, um sich selbst zu beruhigen.

ACHTUNG: KINDER BRAUCHEN AUCH ÜBER DIE ERSTEN LEBENSJAHRE HINAUS BEGLEITUNG BEIM UMGANG MIT STARKEN GEFÜHLEN.

Neben den körperlichen Bedingungen, die auf die Regulationsfähigkeit des Babys Einfluss haben, können auch prä- und postnatale Ereignisse das Temperament des Kindes mitbestimmen. Psychische Probleme, Stress und Schwierigkeiten in der Familie und Partnerschaft können Babys bereits im Bauch wahrnehmen. Auch eine traumatische Geburt und fehlende Bindungsmomente in den ersten Stunden und Tagen können emotional auf das Kind einwirken. Wie viel Einfluss diese Erfahrungen auf das Un- und Neugeborene haben, ist bis heute nicht ganz klar.

Aber bitte keine neuen Schuldgefühle: All diese Ereignisse sind nur kleine Puzzleteile, die Einfluss auf die Entwicklung ihres Kindes nehmen können. Jedes Kind reagiert unterschiedlich auf solche Einflüsse. Sicherlich ist keine dieser Situationen entstanden, um dem eigenen Kind etwas Böses anzutun. Eine Mutter, die in der Schwangerschaft viel gearbeitet hat und viel Stress hatte, hat dies aus gutem Grund getan, vielleicht weil sie ihre Aufgaben professionell übergeben wollte oder weil sie das Geld dringend brauchte. Eltern, die sich in der Schwangerschaft oft gestritten hatten, haben einen Weg gesucht, in einer Problemsituation eine Lösung zu finden. Und auch Mütter mit psychischen Erkrankungen vor oder nach der Geburt tragen keine Schuld! Depressionen und Angststörungen sind Krankheiten. Sie brauchen Zeit und (professionelle) Hilfe, um zu heilen. Umso wichtiger ist es in Fällen von psychischem und körperlichem Stress oder weiteren negativen Einflussfaktoren, dafür zu sorgen, dass sie so gut wie möglich minimiert werden, und zwar vor, während und auch nach der Geburt. Auch wenn Eltern in vielen Fällen keine Schuld haben, tragen sie als Sorgeberechtigte doch die Verantwortung dafür, die Folgen der negativen Einflüsse abzumildern. Hier kann ein besseres Stressmanagement, Hilfe von außen oder klare Absprachen für die Aufgabenverteilung hilfreich sein.

Genauso wenig wie Eltern an der neuen Situation mit ihrem temperamentvollen Baby schuld sind, ist es ihr Kind. Babys schreien nicht, um uns zu manipulieren. Das können sie schlicht noch nicht. Um jemand anderen (negativ) zu beeinflussen, benötigt man Empathie, also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Diese erlernen Kinder erst zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr. Wenn ein Baby schreit, will es etwas Wichtiges mitteilen: Es ist sein Weg der Kommunikation.

SELBSTSTÄRKUNG

Das menschliche Gehirn glaubt vor allem Dinge, die es oft und regelmäßig hört. Da dein Gehirn in der Vergangenheit wahrscheinlich häufig zu hören bekam, dass du etwas falsch gemacht hast, lohnt es sich, die folgende Übung so oft wie möglich laut und deutlich zu wiederholen. Sage laut zu dir selbst:

»Ich lasse all meine Schuldgefühle ab heute los. Ich habe die Möglichkeit, etwas an der Situation zu verändern, und übernehme ab jetzt die Verantwortung!«

Sag diesen Satz auch laut zu deinem Partner und umgekehrt, wenn euch das guttut. Wusstest du, dass das menschliche Gehirn sechsmal so viel positiven Input braucht, um einen negativen Gedanken zu verabschieden? Es ist nicht immer leicht, im Alltag mit wenig Schlaf und mit viel körperlicher Belastung für gute Laune und Motivation zu sorgen. Und doch hast du damit die Möglichkeit, direkt etwas zu verändern. Lass dein Gehirn etwas Neues glauben und übernimm die Verantwortung, zukünftig neue Lösungen zu finden.

Jede Familie ist einzigartig

Eltern von sensiblen Babys bekommen sehr oft ungefragt Ratschläge. Sie hören von Freunden und Bekannten, dass auch sie Phasen hatten, in denen ihr Kind unzufrieden war, in denen sie es tragen mussten oder in denen die Nächte schlecht waren. Der Unterschied bei Familien mit sensiblen Babys ist jedoch, dass diese Zustände nicht manchmal und schubweise vorkommen, sondern in der Regel permanent auftreten.

Es ist also fraglich, ob Ratschläge von außen immer hilfreich sind. Was einer Familie sowie jedem einzelnen Familienmitglied guttut und hilft, ist allein die Entscheidung der beteiligten Personen. Jede Familie darf ihren eigenen Weg gehen und selbst herausfinden, was ihr schadet oder nützt. Wenn sie auf diesem Weg Unterstützung braucht, ist es wichtig, dies klar anzusprechen. Je klarer Menschen formulieren, was sie brauchen, desto besser kann ihnen geholfen werden (siehe >).

Eltern erleben das Schreien ihres Kindes sehr unterschiedlich. Hier kommt es vor allem auf das eigene Temperament und die eigene Sensibilität an. So können...