Das verstaatlichte Kind - Optimiert, reguliert, traumatisiert - Wie unsere Gesellschaft ihre Kinder versaut

Das verstaatlichte Kind - Optimiert, reguliert, traumatisiert - Wie unsere Gesellschaft ihre Kinder versaut

von: Gunda Frey

books4success, 2022

ISBN: 9783864708121 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Das verstaatlichte Kind - Optimiert, reguliert, traumatisiert - Wie unsere Gesellschaft ihre Kinder versaut


 

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Was ist nur los mit unseren Kindern?


Eine besorgte Erzieherin nimmt Kontakt zu mir auf. Ein kleiner Junge in ihrer Gruppe (vier Jahre alt) hat nach dem Lockdown einen Waschzwang entwickelt. Er steht unaufgefordert circa alle 20 Minuten auf und wäscht sich die Hände. Als die Erzieherin ihm sagt, dass er das nicht müsse, entgegnet dieser empört: „Aber ich will nicht, dass meine Oma stirbt.“

Der Vater eines 14-Jährigen bittet um Unterstützung. Sein Sohn habe Angst vor dem Online-Unterricht entwickelt. Der Junge erzählt mir, dass alle Bildschirme während des Online-Unterrichts schwarz sind. Für ihn kommt jede Ansprache des Lehrers aus dem Nichts und versetzt ihn zunehmend in Panik. Also meldet er sich an und stellt dann die Kamera aus und das Mikro auf stumm. Er geht nicht mehr raus, trifft keine Freunde mehr und hat deutlich zugenommen. Der Besuch der Schule nach dem Lockdown fällt schwer. Er lebt weiterhin zurückgezogen.

Eine 19-jährige Studentin hat ihr Studium abgebrochen. Sie macht jetzt eine Ausbildung. Da sie allein lebt, fehlen ihr die Sozialkontakte. Sie kämpft deutlich mit einer depressiven Symptomatik und hat sich vor dem Abbruch des Studiums selbst in eine Klinik eingewiesen.

Diese Beispiele sind keine Einzelfälle und zeigen die Auswirkung der Pandemie auf unsere Kinder. Aber schon vor der Pandemie gab es eine besorgniserregende Entwicklung im Hinblick auf die psychische Gesundheit unserer Kinder. Bereits 2019 kämpfte jedes vierte Kind mit psychischen Störungen.1 In Behandlung sind sie oft wegen Depressionen und Angststörungen. Die Barmer Krankenkasse belegt in ihrem Arztreport, dass sich die Inanspruchnahme von Psychotherapie durch Kinder und Jugendliche in den letzten elf Jahren mehr als verdoppelt hat, in manchen Regionen beträgt der Anstieg bis zu 236 Prozent.2 Jährlich nimmt knapp eine Million Kinder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch.3 Bei einer Wartezeit von derzeit ein bis zwei Jahren kann man davon ausgehen, dass eine weitere Million Kinder auf ein psychotherapeutisches Hilfsangebot wartet.

Neueste Studien zeigen eine Verschiebung weg von Depressionen und verwandten Störungen zu einer scheinbar anderen Problematik: 2020 wurden 60 Prozent mehr Kinder wegen Adipositas behandelt als 2019.4 Auch andere Essstörungen wie Bulimie haben zugenommen. Aber ist dies eine wirkliche Verschiebung oder handelt es sich nur um eine andere Ausdrucksform des gleichen Problems?

Schon seit geraumer Zeit wird immer offensichtlicher, dass mit unseren Kindern etwas nicht stimmt. Allein wenn ich die Zahl der ADHS-Diagnosen betrachte, wird mir ganz schwindelig. Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen, Traurigkeit, sozialer Rückzug, oppositionelles (trotziges oder feindseliges) Verhalten, soziale Unsicherheit und vieles mehr beeinträchtigen das Leben unserer Kinder. Wir sehen es an der großen Lustlosigkeit, an der „Kein Bock“-Haltung – kein Bock auf Schule und auch kein Bock auf Engagement. Oftmals steht hinter dem „Kein Bock“ Angst: Angst vor der Zukunft. Sie scheint für unsere Kinder immer unsicherer zu werden. Aber welche Rückschlüsse ziehen wir aus diesem Trend? Unsere Kinder und unsere Jugendlichen sind nicht anpassungsfähig? Oder wissen es nicht zu schätzen, in einem solch wohlhabenden Land zu leben? Wohl eher nicht. Denn auch die Kinderarmut in Deutschland steigt weiter an.5

Um zu verstehen, was mit unseren Kindern wirklich los ist, lohnt es sich, den Blick weg von den Symptomen hin zu den Ursachen zu lenken. So wie es bei allen Dingen eine Ursache und Wirkung gibt, so gibt es für die steigende Zahl von Verhaltensauffälligkeiten auch eine Ursache. Das Verhalten von Kindern ist lediglich ein Ausdruck ihres inneren Erlebens. Sieht man genau hin, senden unsere Kinder uns eine ganz deutliche Botschaft. Mit ihrem auffälligen Verhalten schreien sie uns förmlich an: „Seht her. Es geht uns nicht gut. Wir kommen nicht klar.“

Es ist ähnlich wie bei einer Pflanze: Wir kaufen sie und stellen sie dorthin, wo sie hübsch aussieht. Nach einiger Zeit werden die ersten Blätter welk, die Blüten fallen ab. Die Pflanze zeigt: Mir geht es nicht gut. Gedeiht eine Pflanze nicht, stellen wir uns meistens Fragen wie: „Habe ich sie genug gegossen? Steht sie am richtigen Platz? Habe ich den Dünger vergessen?“ Zeigt hingegen ein Kind „welke Blätter“, fragen wir uns, was mit dem Kind nicht stimmt, anstatt uns zu fragen, was wir vielleicht versäumt haben. Wir kategorisieren die Symptome in Störungen und geben den Kindern oder ihren Eltern die Schuld an ihrem Verhalten. Wir beschneiden junge Menschen in der Erwartung, dass sie dann neue Blätter produzieren.

Uns ist ein grundsätzliches Verständnis dafür abhandengekommen, was Kinder uns mit ihrem Verhalten signalisieren. Wir scheinen auch nicht mehr zu wissen, was sie wirklich brauchen. Vielleicht fehlt uns auch die Bereitschaft, dies wissen zu wollen. Pflanzen brauchen Licht, Wasser und Dünger. Die einen benötigen einen Standort in der Sonne, andere mögen etwas mehr Schatten. Bei Pflanzen wissen wir, was zu tun ist, oder wissen zumindest, wo wir es nachlesen können. Wissen wir das bei unseren Kindern auch? Ich habe in meiner Praxis viele verunsicherte Eltern erlebt, die nicht (mehr) wussten, was ihre Kinder wirklich brauchen, um sich gesund und störungsfrei zu entwickeln. Wer sich mit dem Thema auseinandersetzen mag, findet es ausführlich beschrieben in meinem Buch „Kindern geben, was sie brauchen“6. Dort geht es um ein Grundverständnis, was passiert, wenn wir Kindern eben nicht geben, was sie brauchen. Diese Methodik des Verstehens kommt aus der Traumatologie.

Emotionale Belastung als Erklärung für Verhalten


Woher kommt nun all das nicht „normgerechte“ Verhalten? Eine sehr einfache Antwort wäre, dass jeder Mensch und jedes Kind einzigartig ist und eigentlich in gar keine Norm passen muss. Dann wäre jegliches Verhalten von Kindern als normal und gesund anzusehen. Wir hätten dann lediglich die Aufgabe, ihnen das Andersartigsein zuzugestehen und nicht abzutrainieren. Davon sind wir jedoch weit entfernt. Stattdessen haben wir angefangen, Verhalten in Symptome und in Störungen zu klassifizieren. Angesichts der Zunahme von psychotherapeutischen Behandlungen und Verhaltensweisen, welche eben als solche Störungen klassifiziert werden, lohnt sich aber ein zweiter Blick.

Belastende Kindheitserfahrungen spielen hier eine wichtige Rolle, denn diese Erfahrungen bleiben sozusagen im System stecken, wenn es keine Möglichkeit der Aufarbeitung gibt. An dieser Stelle setze ich diese Belastungserfahrungen mit dem Begriff Trauma gleich. Was ist ein Trauma? Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Verletzung“. Im psychischen Kontext ist eine Verletzung der Seele gemeint. Ein seelisches Trauma kann immer dann entstehen, wenn für ein emotional anstrengendes Erleben keine geeignete Bewältigungsstrategie zur Verfügung steht. Dabei hat fast jedes Trauma Auswirkungen auf die seelische und auch körperliche Gesundheit des Einzelnen und prägt seine Zukunft maßgeblich – und sei es durch aus dem Erleben entstandene blockierende Glaubenssätze. Aber dazu später mehr. Erst einmal geht es um das klassische Traumaverständnis.

Nehmen wir ein Beispiel: Wird ein Kind von einem Hund gebissen, kann es sein, dass diesem Erleben von Schmerz, Angst und Hilflosigkeit keine Bewältigungsstrategie gegenübersteht. Dann wird in der Folge dieses Kind Angst vor jeder Art von Hunden entwickeln und sie als Sicherheitsverhalten in Zukunft meiden. Aus einem solchen Trauma entsteht nicht zwingend eine andauernde schwere Problematik, auch wenn die Angst vor Hunden eine Einschränkung im zukünftigen Leben des betroffenen Kindes bedeutet. Ein Trauma kann aber auch zu einer sogenannten „posttraumatischen Belastungsstörung“ führen.

In der ICD 10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) ist eine posttraumatische Belastungsstörung für Erwachsene klar definiert: Es braucht ein Ereignis von „außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophenartigem Ausmaß“, welches „bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung auslösen würde“. Zusätzlich werden bestimmte Symptome benannt. Neben Reizbarkeit, Wutausbrüchen, erhöhter Schreckhaftigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen sind in der ICD 10 noch Vermeidungsverhalten und Wiedererleben der Belastung verzeichnet. Diese Aufzählung zeigt Parallelen zu diversen „Auffälligkeiten“, die eine Vielzahl von Kindern zeigt: Konzentrationsschwierigkeiten, Wutausbrüche, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit und Schlafstörungen. Einzig das Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß scheint zu fehlen.

Es gibt jedoch Studien, die den Zusammenhang von belastenden Kindheitserfahrungen, die nicht nur von katastrophalem Ausmaß waren, und psychischen,...