Behindert und stolz - Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht

Behindert und stolz - Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht

von: Luisa L'Audace

Eden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe, 2022

ISBN: 9783959104074 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 15,99 EUR

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Behindert und stolz - Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht


 

Born this way


Als ich noch klein war, dauerte es eine ganze Weile, bis ich verstand, dass ich mich durch gewisse Dinge von den Kindern in meinem Umfeld abhob. Und noch viel länger dauerte es, bis ich verstand, dass ich weder Einfluss auf diese Unterschiede hatte noch, dass sie meinen Wert als Menschen ausmachen.

Ich wuchs in einem kleinen Dorf in Hessen auf, in dem ich das einzige behinderte Kind war. Ich wusste nicht, woran es lag, aber von klein auf war da so ein Gefühl, als hätten alle Menschen um mich herum eine Bedienungsanleitung für ihr Leben erhalten und als wäre nur meine irgendwo verloren gegangen, bevor ich sie hatte lesen können. Doch obwohl sich mein Leben in einigen Bereichen von dem der anderen Kinder unterschied, konnte ich einfach nicht benennen, was der Grund dafür war, und vergrub dieses Gefühl tief in mir drin. Ich kann mich noch sehr genau an den Tag erinnern, an dem ich in meinem Kinderzimmer vor dem Hochbett mit der Rutsche stand, während meine Mama vor mir kniete und sagte: »Morgen bekommst du dein erstes Korsett angepasst.«

Ich war damals vier Jahre alt, und man hätte mir wahrscheinlich genauso gut erklären können, dass ich morgen einen Porsche bekommen würde. Das hätte ich vermutlich genauso wenig verstanden. Also fragte ich einfach nur neugierig: »Ein Korsett?«

»Ja, das soll dir helfen, damit dein Rücken wieder gerade wird«, erwiderte sie. Ich spüre ihre Hände heute noch auf meinen Rippen, wie sie – auf meine Frage, wie sich das wohl anfühlen würde – meinen Oberkörper vorsichtig in eine aufrechtere Position schob. Doch im Gegensatz zu ihren warmen Händen erwartete mich ein paar Wochen später eine kalte Plastikschale, die mich vom Schlüsselbein bis zur Hüfte einengte und die ich von nun an acht Jahre lang 23 Stunden am Tag tragen würde. Zugegeben, manchmal waren es nur um die 15 Stunden, denn im Alter von acht oder neun Jahren hatte ich den Dreh raus, wie ich mich nachts heimlich aus dem unbequemen und unnachgiebigen Negativabdruck meines Oberkörpers herausschälen konnte. Kurz bevor der Wecker klingelte, zwängte ich mich dann wieder zurück in dieses ungeliebte Objekt. Ich hatte nicht genug Kraft in meinen kleinen Händen, um die unnachgiebigen Plastikschnallen zu verschließen, die die Gurte mit Klettverschluss festhielten und sicherstellten, dass sie sich um keinen Zentimeter lockerten. Um dennoch nicht aufzufliegen, entwickelte ich eine Taktik. Ich nahm zwei oder drei Schritte Anlauf und warf mich mitsamt dem Korsett leicht, aber gezielt gegen die Wand, sodass die Schnallen beim Aufprall zwischen dem harten Plastik des Korsetts und der Raufasertapete meines Kinderzimmers zusammengedrückt wurden und gar keine andere Chance mehr hatten, als endlich nachzugeben und einzurasten.

Es waren besonders jene Schnallen sowie die obere Kante des Korsetts, die mich bereits früh störten, standen sie doch immer etwas hervor und zeichneten sich durch so gut wie jedes T-Shirt deutlich ab. Was mir aber noch deutlich mehr zu schaffen machte, waren die Kinder im Kindergarten sowie der Grundschule, die manchmal sanft, manchmal weniger sanft auf meinem Bauch herumtrommelten und fragten: »Na? Trägst du wieder deinen Panzer?« Oder: »Bist du etwa eine Schildkröte?« Für manche Kinder in meiner Schule gehörte der Knuff in meinen Bauch regelrecht zur Begrüßung dazu. In den seltenen Fällen, in denen ich das Korsett wegen Druckstellen oder besonderen Anlässen zu Hause lassen durfte, landeten ihre Fäuste ungebremst in meiner Magengrube.

Vermutlich gehörten diese kleinen, aber doch so gewaltvollen Gesten zu den frühesten Diskriminierungserfahrungen, an die ich mich aktiv erinnern kann. Dabei waren es sicherlich nicht die ersten. Ich hatte die abfälligen und bewertenden Blicke schließlich auch schon gespürt, als meine Mutter mich im Kinderwagen durch die Stadt geschoben hatte, während andere Kinder in meinem Alter bereits ausgelassen neben ihren Eltern herumhüpften und sie am Arm zogen, weil es ihnen nicht schnell genug gehen konnte. Ich hatte diese Blicke damals nur nie deuten können. In den Neunzigern und frühen Zweitausendern war es einfach noch nicht so üblich gewesen, Kleinkindern einen Rollstuhl anzupassen, wenn diese in ihrer Mobilität eingeschränkt waren. Es gab diese Möglichkeit zwar, jedoch war dabei vermutlich ein entscheidender Faktor, dass ich nicht dem klassischen Bild einer Rollstuhlfahrerin entsprach, so wie die Mehrheitsgesellschaft sich diese nun mal vorstellt. Dabei haben viele Rollstuhlfahrer*innen eine sogenannte Restgehfähigkeit. So wie auch ich. Zwar machte ich erst sehr spät meine ersten Schritte, und es waren mehrere Operationen dafür nötig gewesen, aber als ich dann eigenständig gehen konnte, hätten mich die wenigsten Menschen als behindert gelesen. Allerdings konnte ich eben weder lange Strecken noch besonders schnell laufen, musste mich dabei sehr konzentrieren und fiel regelmäßig hin. Doch die Tatsache, dass ich mich dennoch irgendwie, wenn auch eingeschränkt, fortbewegen konnte, hatte Ärzt*innen scheinbar davon abgehalten, darüber nachzudenken, ob ein Rollstuhl meine Mobilität verbessern könnte. Auch die fehlende Diagnose, die ich schließlich erst im Alter von 22 Jahren und infolge einer schier endlos langen Suche erhalten würde, war dabei vermutlich ein entscheidender Faktor. Dabei ist es gerade für Kleinkinder so wichtig, sich frei im Raum bewegen zu können, um Selbstständigkeit zu erlernen. So sind es doch insbesondere die ersten drei Lebensjahre, in denen ich nicht hatte laufen können, die entscheidend für die Entwicklung eines Kindes sind. Doch während ein Rollstuhl genau dafür gesorgt hätte, mir mehr Selbstständigkeit und Teilhabe zu ermöglichen, verbinden die meisten Menschen ihn bis heute noch mit etwas Negativem. Etwas, was einem Aufgeben oder einem Schritt zurück gleichkommt. Selbst viele Ärzt*innen scheinen die positive Wirkung von Hilfsmitteln bis heute oft nicht auf dem Schirm zu haben, und so schob mich meine Mutter also bis zu meinem fünften Lebensjahr im Kinderwagen herum. Es war ein faltbares Modell, das sie neben uns herschleppte oder -schob, während ich lief, und das sie auseinanderklappen konnte, wenn ich mit meinen Kräften am Ende war oder wir schneller gehen mussten.

Doch auch wenn ich Schwierigkeiten bei der Fortbewegung hatte, so stellte dies in meiner kindlichen Wahrnehmung erst mal nichts Auffälliges dar. Ich stürzte ständig, jedoch nahm ich die Veilchen unter meinem Auge, die aufgeschürften Knie, die blauen Flecken und die blutige Unterlippe, wie sie eben kamen. Auch mehrere fast schon akrobatische Stürze von den obersten Stufen der steilen Treppen unseres alten Fachwerkhauses erachtete ich nicht wirklich als etwas Außergewöhnliches, wobei ich aus heutiger Perspektive wirklich riesiges Glück hatte, dass ich nie schwerere Verletzungen davontrug. Doch die Logik einer Sechsjährigen lautete nun mal: Kinder fallen eben hin, Erwachsene nicht mehr.

Ich kann mich noch genau an einen warmen Sommertag erinnern, an dem diese Annahme bis in ihre Grundfesten erschüttert wurde. An jenem Tag besuchte ich mit meiner Mutter und einer Nachbarin einen Flohmarkt. Er befand sich in der Nähe von einer Art Acker, jedenfalls war der Boden, auf dem wir liefen, nicht befestigt. Ich hielt die Hand meiner Mama fest und hatte alle Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne dass sie sich in einer Wurzel verkeilten oder über einen Erdklumpen stolperten. Dazu schien die Sonne erbarmungslos hell in unsere Gesichter, was das Vorankommen nicht leichter machte. Konzentriert auf meine Füße, zuckte ich plötzlich zusammen, als rechts von mir ein kurzer, aber durchdringender Schrei ertönte. Unsere Nachbarin, die bis eben noch rechts von meiner Mutter gelaufen war, war gestürzt und hockte nun etwas verdattert neben uns auf dem erdigen Boden. Die Situation löste sich beinahe genauso schnell auf, wie sie gekommen war. Die Nachbarin rappelte sich wieder auf, murmelte ein paar Worte und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Ihr war nichts passiert, aber dieses Erlebnis erschütterte meine kindliche Welt zutiefst. Wahrscheinlich bestand in diesem Moment sogar kurz Verwechslungsgefahr zwischen mir und diesem Emoji, dem vor lauter Verblüffung der Kopf explodiert. Erwachsene Menschen konnten also auch hinfallen? Was, wenn ich, entgegen meiner Annahme, das Hinfallen also doch nie verlernen würde?

Das mit dem Hinfallen wurde zu meiner eigenen sowie der Freude meiner Mutter und der gestressten Ärzt*innen in der Notaufnahme zum Glück irgendwann wirklich weniger. Jedoch lag das wohl kaum an einer tatsächlichen Verbesserung meiner Körperkoordination, sondern an meiner wachsenden Vorsicht, weil sich nach und nach immer mehr Metall zu meinen Knochen gesellte und mir klar wurde, dass Stürze Konsequenzen mit sich bringen konnten. Es änderte sich jedoch nichts daran, dass ich weder besonders schnell noch besonders lang laufen konnte, und auch meine Motorik blieb weiterhin eingeschränkt. Und so stieß ich regelmäßig an meine Grenzen.

Bevor die Gefahr zu stürzen schließlich irgendwann zu groß wurde, durfte ich viele Jahre auf den Pferden einer Bekannten reiten. Ich muss heute noch schmunzeln, wenn ich daran denke, dass ich mit drei Jahren die ersten Schritte machte und mit vier bereits jede Woche auf einem Pferd saß. Nicht das klassische Reiten mit Gerte und Trense, sondern sogenannter Horsemanship, eine Reitweise, bei der es um den fairen Umgang und das Vertrauen zwischen Mensch und Tier geht. Ich liebte das Reiten so sehr, und es gab mir viel Selbstbewusstsein, als so kleiner Mensch ein so großes Pferd mit so wenig Kraftaufwand steuern und lenken zu können. Als meine Freund*innen ein paar Jahre später ebenfalls mit dem...