Wir fliegen hoch, wir fallen tief - Eine Psychiaterin spricht offen über ihre Bipolare Störung und zeigt, wie wir mit der Krankheit umgehen können

Wir fliegen hoch, wir fallen tief - Eine Psychiaterin spricht offen über ihre Bipolare Störung und zeigt, wie wir mit der Krankheit umgehen können

von: Astrid Freisen

Eden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe, 2023

ISBN: 9783959104029 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 15,99 EUR

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Wir fliegen hoch, wir fallen tief - Eine Psychiaterin spricht offen über ihre Bipolare Störung und zeigt, wie wir mit der Krankheit umgehen können


 

Überleben


Pearl Jam: Alive

1998 zog ich aus meinem Elternhaus aus, um mein Medizinstudium in Freiburg zu beginnen.

Ich machte mein Abitur mit einem Schnitt von 1,1. Ich war natürlich nicht zufrieden. Nur ein Rohpunkt hatte mir zu 1,0 gefehlt. Außerdem gab es einen Mitschüler, der das geschafft hatte, der also besser war als ich. Der Perfektionismus hatte mich schon damals, im Alter von 19 Jahren, fest im Griff. Ich war extrem ehrgeizig, und dass ich mit dem Abiturpreis meines Gymnasiums ausgezeichnet und kurze Zeit später in die Studienstiftung des Deutschen Volkes, eine Hochbegabtenförderung, aufgenommen wurde, tröstete mich nur bedingt.

Die Zeit nach dem Abi habe ich als eine der freiesten in meinem Leben in Erinnerung. Ich testete viel aus, feierte ausgelassen und genoss es, tun und lassen zu können, was ich wollte. Ob ich damals schon bipolare Phasen hatte? Das ist im Rückblick tatsächlich schwer zu beurteilen. Ich habe aber schon Erinnerungen an Ereignisse, in denen ich sehr wild und auch ein bisschen verrückt war, oder an Tage, an denen ich mich am liebsten ins Bett verkrochen hätte. Stimmungsschwankungen kannte ich also durchaus.

Was ich aber im Frühjahr 2004 erlebte, war anders. Ich war mit meinem Medizinstudium so weit fertig, fast alle Klausuren waren erfolgreich geschrieben, und es fehlten nur noch das Praktische Jahr und im Anschluss das dritte Staatsexamen, um alles abzuschließen. Bevor ich aber mit meinem Tertial in Innerer Medizin in Adelaide in Australien starten wollte (ich hatte dafür ein begehrtes Stipendium meiner Universität erhalten), hatte ich mir noch die Erledigung meiner Doktorarbeit vorgenommen. Mein ursprüngliches Projekt im Bereich Medizingeschichte, nämlich die Entwicklung der Aidshilfe in Deutschland darzustellen, hatte sich als nicht realisierbar erwiesen. Zu umfangreich, zu komplex, und letztlich war es für mich mit meinem Medizinstudium auch zu schwierig, die Anforderungen einer geisteswissenschaftlichen Arbeit zu erfüllen. Ich brauchte nun also etwas, das schnell abzuhandeln war und mich trotzdem interessierte.

Über eine Freundin landete ich bei einem Projekt in der Psychiatrie. Es ging darum, eine App für bipolare Menschen zu entwickeln, mit dem Ziel, die Regelmäßigkeit ihres Tagesablaufs zu optimieren. Dies sollte sich regulierend auf ihre biologische innere Uhr auswirken und so zur einer Reduktion von Krankheitsphasen führen. Das Thema interessierte mich sehr. Von Computern hatte ich allerdings überhaupt keine Ahnung. Die App wurde auf einem Handspring Treo installiert, so einer Art erstem Smartphone. Die Probanden sollten ihre Daten täglich eingeben, ich wertete sie dann einmal pro Woche aus. Ziel war es, einen ersten Prototyp der App zu testen und zu optimieren. Die technische Durchführung lief über eine Computerfirma, deren Miteigentümer mein Betreuer war.

Jedem, der sich nur einigermaßen mit solchen Dingen beschäftigte, wäre vermutlich sofort klar gewesen, dass es bei einem solchen Projekt dazugehört, dass Dinge nicht funktionieren. Für mich war dieser Punkt aber sehr schwierig. Schließlich wollte ich mit meinem Ehrgeiz immer alles perfekt haben. Hinzu kam, dass ich auf einmal keinen geregelten Tagesablauf mehr hatte und durch den Wegfall der Vorlesungen und Seminare auch viel weniger Kontakte. Alles wurde plötzlich unglaublich schwer, ich verbrachte mehr und mehr Zeit im Bett und drückte ständig die Snooze-Taste des Weckers. Erst als es gar nicht mehr zu verhindern war, verließ ich das Bett, wobei ich mich schon nach dem kurzen Weg ins Badezimmer erschöpft und erschlagen fühlte. Dabei hatte ich mir für den Vormittag meist viel vorgenommen: Studien für die Doktorarbeit lesen, aufräumen, das Chaos in der Küche beseitigen.

Aber ich schaffte es nur noch, das Allerwichtigste zu erledigen, was bei mir natürlich Schuldgefühle verursachte. Ich ging nicht ans Telefon, wenn es klingelte, hatte keinen Appetit und weinte viel. Für meinen Freund Florian, der seit Herbst 2001 auch in Freiburg lebte, war das schwierig, denn ich bin eigentlich jemand, der immer etwas zu tun hat. Als wir zusammenkamen, war er gerade 22, ich 21 Jahre alt. Ich hatte ihn während meiner Schulzeit in einem autonomen Jugendtreff kennengelernt, über einen gemeinsamen Freund. Es dauerte ein bisschen, bis wir uns ineinander verliebten. Es war anders als bei den anderen. Eher langsam, weniger aufgeregt und weniger stürmisch. Irgendwie kam es immer mal wieder dazu, dass wir uns mit den Händen des jeweils anderen beschäftigten. Er hatte diese faszinierend schönen Hände, diese langen feingliedrigen Finger. Florian war ein feiner Mensch. Mit viel Offenheit für Kunst, Fotografie und Philosophie. Er besuchte mich spontan in Freiburg, und wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen. Wir hörten seine Maria-Callas-CDs und gingen zusammen in Museen. Und zusammen tanzen. Langsam eroberte er mein Herz, und schließlich wurden wir ein Paar. Sechs Monate später zog er nach Freiburg in eine WG, weil wir beide nicht mehr in einer Fernbeziehung leben wollten. Meine aktuelle Verfassung überforderte ihn allerdings.

Normalerweise war ich in unserer Beziehung die Aktive und die Antreiberin. Schließlich waren meine eigenen inneren Antreiber immer am Schreien. Jetzt machte mir alles Angst, und es war schon zu viel für mich, einkaufen zu gehen. Gefühlt stundenlang stand ich vor dem Supermarktregal, unfähig, mich für eine Margarine zu entscheiden. Ich konnte nicht mehr allein sein und klammerte mich an Florian, überzeugt davon, dass meine Doktorarbeit scheitern würde. Wie sollte ich diese Niederlage verkraften? Versagerin. Ich lag mitten am Tag im Bett, war von allem überfordert. Mal wieder dachte ich, dass ich allen nur etwas vormachte, dass es nur Glück gewesen war, dass ich so weit gekommen war, dass ich viel zu doof war, um in der Studienstiftung zu sein, und wie es nur sein konnte, dass das niemand sah. Erst einige Jahre später begegnete mir der Begriff »Hochstapler-« oder »Impostor-Syndrom«, der genau diese Gedanken beschreibt: Trotz hoher Leistung im Beruf oder Studium erlebte ich mich als Versagerin, die das alles nur durch Zufall oder Glück erreicht hatte, was bestimmt bald entdeckt werden würde, und dann würden mich alle fallen lassen. Meine Pflichttermine schaffte ich trotzdem irgendwie (hier waren meine schreienden Antreiber mal wieder nützlich), aber bei den Terminen mit meinen Probanden, bei denen routinemäßig Fragebögen zur Erfassung der Stimmung eingesetzt wurden, war ich manchmal depressiver als sie. Schon verrückt, oder?

Irgendwann sprach mich eine Psychologin an, die am Projekt beteiligt war und mich bei der Statistik unterstützte. Wir saßen draußen an einem von Freiburgs berühmten Bächle, die Sonne schien vom wolkenlosen blauen Himmel, die Vögel zwitscherten munter, und um uns herum saßen lauter kleine Grüppchen von Studierenden, die den schönen Frühsommertag genossen. Stimmengewirr und Lachen lagen in der Luft. Es war einer dieser strahlenden Freiburgtage, die die Stadt so beliebt machten. Wir aßen zusammen zu Mittag, beziehungsweise sie aß, während ich nur in meinem Salat herumstocherte.

»Sag mal, Astrid, ist alles okay mit dir?« Sie schaute mich mit diesem forschenden Blick an, der für viele Psychologen typisch ist und den ich selbst auch ganz gut draufhabe. Fragend, empathisch, als ob sie direkt in mich hineinsehen könnte.

»Ja«, sagte ich und wich ihrem Blick aus.

»Du wirkst müde«, sagte sie einfühlsam, »schläfst du schlecht?«

»Nicht wirklich«, versuchte ich auszuweichen.

Doch sie hakte nach: »Was heißt ›nicht wirklich‹?«

»Ich wache morgens zu früh auf«, antwortete ich zögernd.

»Wie viel zu früh?«

»So ein, zwei Stunden.«

»Isst du genug?«, fragte sie.

»Nee, will abnehmen.«

Schon wieder dieser Blick. Nun, sie wusste, wie man den einsetzte. »Okay, ich habe keinen Appetit.«

»Und wie fühlst du dich?«

Da fing ich an zu weinen, und meine mühsam aufrechterhaltene Fassade zerbröckelte unter ihrer Fürsorglichkeit.

»Es ist okay. Lass es raus.«

Aber ich versuchte, mich schnell wieder zusammenzureißen. Bloß keine Schwäche zeigen. Was sollte sie von mir denken?

»Astrid, du weißt, dass du depressiv bist, oder?«

Wusste ich es? Keine Ahnung. Zumindest hatte ich es bisher noch nicht zugelassen, diese Möglichkeit ernsthaft für mich in Betracht zu ziehen. Ich hatte gehofft, das würde einfach vorbeigehen, so wie sonst auch immer, wenn ich mich nur zusammenriss und mich mehr anstrengte.

»Du solltest zum Arzt gehen. Oder frag Jens, ob er dir helfen kann.« Jens war mein Doktorvater.

»Auf keinen Fall. Der darf das nicht wissen.« Scham überflutete mich.

»Wieso nicht?«

Ja, wieso eigentlich nicht? Weil ich mich dafür schämte, dass ich nicht einwandfrei funktionierte. Ich wollte nicht, dass er das wusste. Dass ich eine Versagerin war. Dass ich nicht stark genug war. Dass ich mich anstellte. Aber Jens war Psychiater, also jemand, der wusste, dass Depressionen eine Krankheit sind und kein Zeichen persönlicher Schwäche. Und doch hatte ich Sorge, dass er mich für den ärztlichen Beruf als ungeeignet einstufen würde. Dabei sind Ärzte und Medizinstudierende deutlich häufiger von Depressionen betroffen als die durchschnittliche Bevölkerung. »Ich will nicht, dass er das weiß.«

»Aber er könnte dir helfen«, sagte sie und sah mich wieder mit diesem empathischen, fürsorglichen Blick an.

»Nein. Versprich mir, dass du das niemandem...