Die Weltreiseberichte von Humboldt, Krusenstern und Langsdorff - Praktiken des Vergleichens und Formen von Weltwissen

Die Weltreiseberichte von Humboldt, Krusenstern und Langsdorff - Praktiken des Vergleichens und Formen von Weltwissen

von: Christine Peters

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2022

ISBN: 9783110798685 , 313 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 99,95 EUR

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Die Weltreiseberichte von Humboldt, Krusenstern und Langsdorff - Praktiken des Vergleichens und Formen von Weltwissen


 

1 Einleitung: Reisen, Vergleichen und Weltwissen


Anmerkung:

Diese Arbeit entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“ (Teilprojekt B03, Weltvergleich und Weltwissen. Europäische Weltreisenarrative vom 18. bis zum 20. Jahrhundert). Sie ist in vielerlei Hinsicht von den dort geführten Diskussionen inspiriert worden. Vgl. zur Forschung des SFB 1288 exemplarisch: Angelika Epple/Walter Erhart (Hg.): Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt a. M., New York: Campus 2015; Angelika Epple/Walter Erhart/Johannes Grave (Hg.): Practices of Comparing. Towards a New Understanding of a Fundamental Human Practice, Bielefeld: transcript; Bielefeld University Press 2020.

Mit den Weltreisen des 18. und 19. Jahrhunderts setzt innerhalb der europäischen Entdeckungsgeschichte eine neue Phase ein: Neben die imperialistischen, kolonialistischen und ökonomischen Expansionsbemühungen, die bereits die vorherigen Jahrhunderte kennzeichnen, tritt nun eine genuin wissenschaftliche Agenda. Die Welt soll nicht mehr nur kolonial angeeignet und wirtschaftlich nutzbar gemacht, sondern vor allem auch wissenschaftlich erfasst und vermessen werden. Handelspolitische Ambitionen werden zwar keineswegs aufgegeben, sie werden allerdings in den meisten Fällen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Welt nachgeordnet.1 In den Reiseberichten, die aus den europäischen Expeditionen hervorgehen, entsteht ein umfassender Diskurs über die Welt, der globales Wissen sowohl in wissenschaftlicher als auch in imperialistisch-ökonomischer Hinsicht erzeugt. Die vorliegende Studie untersucht eine Schreibpraxis, die für diese vielschichtige Auseinandersetzung mit der Welt und dem Globalen konstitutiv ist, bisher jedoch von der Forschung nur am Rande beachtet worden ist: das Vergleichen.

Praktiken des Vergleichens erleben im 18. und 19. Jahrhundert einen regelrechten Boom. Dieser zeigt sich zum einen in den zahlreichen vergleichenden Wissenschaften, die in diesem Zeitraum entstehen, und manifestiert sich zum anderen auch deutlich in der Weltreiseliteratur, die die Wissensbestände dieser vergleichenden Wissenschaften einer kritischen Überprüfung unterzieht und bekannte mit neuen Wissensbeständen abgleicht.2 Vergleiche sind in den Berichten der europäischen Reisenden allgegenwärtig: Verglichen werden etwa geografische und kartografische Daten, Naturphänomene aus den Bereichen Zoologie, Botanik und Geologie, Sprachen, Kulturen und Ethnien, natürliche Ressourcen, ökonomische Märkte und auch die Reiseberichte etwaiger Vorgänger. Der Auswahl und Kombination von Vergleichsgegenständen scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein: Die Vergleiche überspannen oft enorme Distanzen, etwa wenn sie verschiedene Weltregionen oder verschiedene historische Epochen in Bezug zueinander setzen. Vergleiche werden herangezogen, um Ordnung unter den auf Reisen gesammelten Daten zu schaffen. Sie erzeugen dabei wiederholt Wissen, das sich auf die Welt in ihrer Gänze bezieht. Die vorliegende Studie geht ebendiesem Zusammenhang zwischen dem Vergleichen und der Auseinandersetzung mit der Welt bzw. dem Globalen anhand ausgewählter Reiseberichte Alexander von Humboldts, Adam Johann von Krusensterns und Georg Heinrich von Langsdorffs nach.3

1.1 Forschungsstand: Heroisierung – postkoloniale Kritik – Vielfalt und Ambivalenzen


Obwohl die wissenschaftliche Zielsetzung der europäischen Entdeckungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts häufig betont worden ist, ist ihre wissenschaftshistorische Bedeutung bisher nur vereinzelt untersucht worden.4 Auch eine umfassende „Literatur- und Erfahrungsgeschichte des überseeischen Reisens“ ist noch nicht geschrieben, wenn auch eingefordert worden.5 Trotzdem haben sich in der Erforschung der europäischen Weltreisen und Weltreiseliteratur im Laufe der Zeit verschiedene Untersuchungsschwerpunkte herausgebildet, die in der einen oder anderen Form bis heute nachwirken.6 Eine erste, stark heroisierende Perspektive auf die Reisenden, ihre Expeditionen und ihre Reiseberichte setzte bereits im Zuge der europäischen Entdeckungsfahrten des 15. und 16. Jahrhunderts ein, wurde in den zeitgenössischen Weltreisediskursen des 18. und 19. Jahrhunderts fortgeführt und findet sich z.T. auch noch in jüngsten Forschungsbeiträgen wieder.7

Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte formierte sich in Teilen stark in Abgrenzung zu dieser heroisierenden Perspektive. Insbesondere postkoloniale Beiträge, die eine kritische Aufarbeitung der Geschichte des europäischen Kolonialismus, Imperialismus und Eurozentrismus zum Ziel haben, wählen einen alternativen Zugang zu den europäischen Reisetexten. Kanonisch geworden ist in diesem Kontext etwa Mary Louise Pratts Imperial Eyes, eine Studie, die sich mit europäischen Formen der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung und insbesondere mit Prozessen der imperialistischen Selbstkonstruktion befasst. Pratt untersucht europäische Reisetexte dezidiert aus einer postkolonialen Position heraus, die das Anliegen verfolgt, Wissen, Geschichte und menschliche Beziehungen zu dekolonisieren.8

Neben den genannten heroisierenden und postkolonialen Perspektiven bildete sich eine Forschungstradition heraus, die vor allem die Vielfalt, insbesondere die Widersprüche, Spannungen und Ambivalenzen innerhalb der europäischen Weltreiseberichte betont. So lag der Fokus etwa auf der Vielfalt und Heterogenität der europäischen Perspektiven sowie auf den verschiedenen, stark kontextabhängigen Formen der Interaktion zwischen reisenden Europäern und der indigenen Bevölkerung.9 Wiederholt wurde darauf verwiesen, dass die europäischen Reiseberichte keineswegs nur als Ausdruck imperialistischer Kontrolle und Expansion verstanden werden sollten, sondern dass sie auch Momente des kolonialen Kontrollverlustes, der Unsicherheit und der Ambivalenz dokumentieren und letztendlich auch Erfahrungen europäischer Reisender zeigen, die dem kolonialen Projekt zuwiderlaufen.10 Auch Forschungsbeiträge, die den Zusammenhang zwischen europäischer Aufklärung und europäischen Entdeckungsdiskursen untersuchten, verwiesen vermehrt auf die Konflikte und Spannungen, die innerhalb der Reiseberichte ausgetragen wurden. Hier zeige sich etwa die Ambivalenz der Aufklärung: Sie könne mit Kolonialismus und Herrschaftsausübung einhergehen, könne die bestehenden kolonialen Machtstrukturen aber auch herausfordern und untergraben.11 Auch in den Positionen der Autoren schlage sich diese Ambivalenz nieder, da diese – wie am Beispiel Georg Forsters nachgewiesen – mitunter eine grundsätzlich affirmative Haltung zur Aufklärung zeigen, jedoch gleichzeitig mit Nachdruck Kritik an den Widersprüchen und der imperialistischen Gewalt der Aufklärung üben.12 Die Vielfalt und Heterogenität der Weltreiseberichte wurde zuletzt auch in Bezug auf die Darstellungsverfahren der Gattung nachgewiesen, die von spezifischen Kontexten (Publika, Veröffentlichungszeitpunkte, Konkurrenzverhältnisse, mediale Möglichkeiten usw.) und Erkenntnisinteressen abhingen und je nach Fall variierten.13 Besonders beachtenswert ist in diesem Kontext der Befund, dass die Gattung – anders als von der Forschung häufig angenommen – nicht durchgängig eine heroisierende Perspektive auf die europäischen Weltreisen einnimmt, sondern dass im Falle einiger Autoren eine Entwicklung von heroisierenden zu multiperspektivischen Erzählweisen beobachtet werden kann.14 Den hier angeführten Forschungsbeiträgen ist gemeinsam, dass sie sich sowohl von heroisierenden als auch von postkolonial orientierten Forschungsparadigmen distanzieren, indem sie die Aufmerksamkeit stärker auf Varianten, Widersprüche und Ambivalenzen innerhalb des europäischen Entdeckungsprojekts lenken.15

Das Vergleichen ist in diesen verschiedenen Traditionen der Reiseliteraturforschung bisher allerdings nur am Rande untersucht worden. So findet sich zum einen eine Reihe von Untersuchungen, die das Vergleichen in der Reiseliteratur nur indirekt adressieren.16 Zum anderen liegen einige wenige Studien vor, die sich dezidiert der Schreibpraxis des Vergleichens zuwenden, ihre Analyse jedoch auf einzelne, in der Forschung bereits viel diskutierte Reisende wie James Cook, Alexander von Humboldt oder Adelbert von Chamisso beschränken.17 Beiträge letzterer Art machen sowohl auf die Relevanz dieses Forschungsthemas als auch auf die noch bestehenden Lücken aufmerksam: Das Interesse an Praktiken des Vergleichens zieht sich bis in die aktuelle Forschung – Oliver Lubrichs Beitrag zum Vergleichen in den Texten Alexander von Humboldts erschien im Jahr 2020. Dennoch beschränkt es sich – wie oben beschrieben und für die Reiseliteraturforschung typisch – auf einige wenige große Namen. Eine umfassende Untersuchung oder zumindest eine Untersuchung, die bekannte und weniger bekannte Reisetexte miteinander vergleicht, steht nach wie vor aus. Die vorliegende Studie eröffnet in diesem Sinne ein neues Forschungsfeld, indem sie das Vergleichen in drei Reiseberichten untersucht, die bisher in sehr unterschiedlichem Ausmaß von der...