Dr. Norden Extra 81 - Arztroman - Gehofft - gewagt

Dr. Norden Extra 81 - Arztroman - Gehofft - gewagt

von: Patricia Vandenberg

Martin Kelter Verlag, 2022

ISBN: 9783987570186 , 100 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Dr. Norden Extra 81 - Arztroman - Gehofft - gewagt


 

»Ich weiß mir einfach keinen Rat mehr, Herr Dr. Norden«, klagte die junge, sichtlich verzweifelte Mutter, die einen schreienden Säugling auf ihrem Schoß hielt. »Cindy will einfach nicht trinken. Sie schreit sich die Kehle wund, sobald sie die Flasche auch nur sieht. Dabei muss sie großen Hunger haben. Was soll ich nur tun?«

Dr. Daniel Norden, dessen besondere Fürsorge den Kleinsten unter seinen Patienten galt, nahm Marie-Luise Kühnel das Baby aus dem Arm und wiegte es sanft in seinen Armen.

»Ganz ruhig, meine Kleine. Das kriegen wir schon hin, nicht wahr?« Unter der fremden, aber begütigenden Stimme beruhigte sich das Baby und blickte den Arzt mit großen, feuchten, dunkelblauen Augen forschend an. »So ist es gut. Du bist ein braves Mädchen.« Während er sprach, betrachtete Daniel Norden das acht Monate alte Kind aufmerksam. Es war deutlich kleiner, als es in diesem Alter üblich war. Sein Körper war erschreckend schmal.

»Leidet Cindy immer noch unter den häufigen Erkältungen?« erkundigte sich Daniel bei der Mutter des Kindes, während er die Kleine zur Patientenliege brachte, um sie dort gründlich zu untersuchen.

»In letzter Zeit glücklicherweise nicht mehr so sehr. Im Augenblick hat sie ein bisschen Schnupfen, aber der kann auch von der ständigen Weinerei herrühren«, erklärte Marie-Luise und rieb sich die schmerzenden Augen. Sie hatte seit Tagen keine Nacht mehr durchgeschlafen und war beinahe am Ende ihrer Kräfte.

Dr. Norden nickte und entkleidete das Kind behutsam.

»Woher rühren denn diese blauen Flecken?« fragte er verwundert, als er einige Hämatome am Oberkörper des Babys entdeckte.

Schuldbewusst senkte Marie-Luise den Kopf.

»Neulich hat sie beim Schreien so sehr gezappelt, dass sie mir beinahe aus dem Arm gefallen wäre. In letzter Sekunde konnte ich sie halten und habe dabei wohl ein bisschen fester als gewöhnlich zugefasst. Dabei muss das passiert sein.«

»Das kommt schon mal vor. Besser als ein Sturz auf den Boden«, beruhigte Daniel die Mutter verständnisvoll und setzte das Stethoskop auf die Ohren, um die magere Brust und den schmalen Rücken gründlich abzuhören.

Cindy starrte verwundert auf das Untersuchungsinstrument und versuchte, mit den kleinen Fingern danach zu grapschen. Lächelnd gab Dr. Norden ihr ein Spielzeug in die Hände, das sie sofort, wie jedes gesunde Baby auch, zur eingehenden Prüfung in den Mund schob. »Hm, da ist ein Geräusch auf der Lunge, das der näheren Untersuchung bedarf. Jetzt werde ich mir mal den Mund ansehen. Vielleicht sind ja neue Zähnchen der Grund dafür, warum sie nicht trinken mag.« Er breitete eine weiche Decke über den unbekleideten Oberkörper des mageren Kindes und öffnete mithilfe eines breiten Holzstäbchens den Mund der Kleinen. Schlagartig begann Cindy lautstark zu protestieren. Daniel gelang es dennoch, einen raschen Blick in den Rachen und unter die Zunge des Kindes zu werfen. Was er dort zu sehen bekam, ließ ihn nicht mehr wundern. »Jetzt ist mir alles klar«, erklärte er ernst.

»Was ist los?«

»Die Kleine hat unter der Zunge eine enorme Schwellung. Kein Wunder, dass sie nicht trinken mag.«

»Woher kann das kommen?«

»So genau kann ich das nicht sagen. So wie es aussieht, könnte es sich um ein Hämangiom handeln, einen Blutschwamm. Das ist ein gutartiger Tumor, der gewöhnlich keinerlei Beschwerden macht. An so exponierten Stellen wie im Gesicht und den Schleimhäuten kann es aber durchaus zu großen Schmerzen und Beeinträchtigungen kommen.«

»Blutschwämme kenne ich nur auf der Haut. Die sehen zwar nicht schön aus, sind aber harmlos. Was machen wir denn jetzt?«

»In diesem Fall ist guter Rat teuer. Gewöhnlich neigen diese Tumore zu einer spontanen Rückbildung. Da Cindy aber keine Nahrung zu sich nimmt, müssen wir in jedem Fall handeln. In Anbetracht ihres geringen Körpergewichts und den Geräuschen auf der Lunge rate ich zu einer Einweisung in die Klinik.«

»Cindy muss in die Klinik?«

»Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Zum einen kann dort die Lunge geröntgt werden. Und es wird unerlässlich sein, das Kind bis zum Abklingen des Hämangioms über eine Nasensonde zu ernähren.«

Marie-Luise starrte den Arzt mit schreckgeweiteten Augen an. Ihr blasses Gesicht wurde noch fahler, so schrecklich klangen diese Neuigkeiten in ihren Ohren.

»Das ist ja entsetzlich«, klagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Cindy darf nichts zustoßen. Sie ist neben meiner pflegebedürftigen Mutter das Einzige, was ich im Leben noch habe.«

»Ich bin mir dessen durchaus bewusst«, erklärte Daniel Norden behutsam, während er das inzwischen wieder schreiende Kind ankleidete. »Deshalb bin ich auch besonders vorsichtig.«

Marie-Luise ließ sich die Worte des Arztes durch den Kopf gehen.

»Cindy kann ich unmöglich in die Obhut fremder Leute geben«, erklärte sie auf einmal mit einer ungeahnten Entschiedenheit. »Egal, wie kompetent sie auch sein mögen. Den Gedanken, sie allein in der Fremde zu wissen, ertrage ich nicht.«

»In einer Kinderklinik ist sie gut aufgehoben, das versichere ich Ihnen. Inzwischen gibt es auch die Möglichkeit, dass die Mütter bei ihren Kindern in der Klinik wohnen.«

»Das geht unmöglich. Wer sollte sich in der Zwischenzeit um Mutter kümmern?« fragte Marie-Luise in wachsender Verzweiflung. Daniel sann einen Moment nach. Dann hatte er die Lösung.

»In diesem Fall kann ich Ihnen noch anbieten, Cindy in der Behnisch-Klinik untersuchen zu lassen.«

Angesichts dieser guten Nachricht erhellte sich Marie-Luises Miene sofort. Es war nicht lange her, dass sie selbst Patientin in der Klinik gewesen war, die sie in bester Erinnerung behalten hatte. Besonders die familiäre Betreuung und der gar nicht anonyme Klinikbetrieb hatten sie sehr beeindruckt.

»Würden Sie das wirklich für uns möglich machen? Das wäre natürlich fantastisch. Dort könnte ich Cindy guten Gewissens lassen.«

Angesichts der wiedererwachten Freude in Marie-Luises Gesicht lächelte Daniel warm.

»Ich werde sofort mit Frau Dr. Behnisch telefonieren und Ihnen so schnell wie möglich Bescheid geben. Richten Sie sich darauf ein, dass Sie Cindy in wenigen Stunden in die Klinik bringen. Bis dahin versuchen Sie bitte, ihr mit dem Löffel ein wenig Nahrung einzuflößen.«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Marie-Luise, die nun schon wieder ein wenig optimistischer in die Zukunft blickte. Und das, obwohl sich ein kreischendes Baby mit einer erstaunlichen Kraft in ihren Armen wand.

Neugierig blickte sich Jasmin Herrlich um, als sie aus ihrem feuerroten Sportwagen ausstieg. Viele Jahre waren vergangen, seit sie ihre Heimatstadt zum Letztenmal besucht hatte. Es waren turbulente Jahre gewesen, in denen sich viel geändert hatte. Sie hatte einen großen Erfolg gefeiert und in Saus und Braus gelebt. Doch seit einiger Zeit war es still um sie geworden. Um ihrem Leben neuen Schwung zu geben, hatte Jasmin eines schönen Morgens beschlossen, nach Hause, zu den alten Freunden zurückzukehren, die sie damals Hals über Kopf verlassen hatte. »Nichts hat sich verändert. Noch dieselbe spießige Gegend wie damals«, spottete Jasmin vor sich hin, während sie die Straßen ihrer Kindheit und Jugend hinunterwanderte. Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht, das Haus ihrer ehemals besten Freundin Marie-Luise Kühnel. »Was wohl aus ihr geworden ist?« Mit einem herablassenden Lächeln drückte sie auf den Klingelknopf. Eine Weile rührte sich nichts, und Jasmin wollte sich schon mit einem Hauch von Enttäuschung abwenden, als hinter der Haustür doch ein Geräusch zu vernehmen war. »Einen Augenblick, ich komme schon«, rief eine weibliche Stimme von drinnen, und gleich darauf wurde geöffnet. Eine Frau im Rollstuhl erschien im Türrahmen. Für einen kurzen Moment starrten sich die beiden Frauen schweigend und fragend an. Schließlich spiegelte sich das Erkennen in den Gesichtern wieder.

»Unsere Schriftstellerin. Das ist ja eine Überraschung«, erklärte Angie Kühnel mit unverhohlener Zurückhaltung.

»Frau Kühnel, wie schön, Sie zu sehen«, rief Jasmin jedoch enthusiastisch. »Was ist mit Ihnen passiert? Seit wann sitzen Sie im Rollstuhl?«

»Seit mich ein Schlaganfall vor drei Jahren zum Pflegefall gemacht hat.«

»Oh, das tut mir aber leid«, kam die unbekümmerte Antwort. »Sie sehen trotzdem blendend aus.«

Irritiert blickte Angie die Heimgekehrte an. Wie sollte sie reagieren?

»Du siehst auch gut aus. Willst du nicht hereinkommen?« erinnerte sie sich schließlich an ihre Pflichten als Gastgeberin. Obwohl sie Jasmin mit gemischten Gefühlen empfing, freute sie sich dennoch über die unerwartete Abwechslung in ihrem sonst so tristen Leben.

»Gerne. Ist Marie-Luise auch da? Oder ist sie inzwischen glückliche Hausfrau und Mutter?« fragte Jasmin in ihrem immer leicht spöttischen Tonfall und ging an Angie vorbei ins Haus.

»Sie gäbe etwas darum, wenn es so wäre.«

»Typisch, immer noch dieselben kleinen Träume wie damals. Hier hat sich wirklich nichts verändert.«

Angie biss sich auf die Lippe. Zu gerne hätte sie Jasmin zurechtgewiesen, ihr etwas über die Härte erzählt, mit dem das Leben seine Schicksalsschläge verteilte. Aber sie sagte nichts. Einer erfolgsverwöhnten, strahlend aussehenden Jasmin hatte sie wenig entgegenzusetzen.

»Willst du mir nicht erzählen, wie es dir ergangen ist? Sicherlich hast du viel erlebt in den vergangenen Jahren.« Jasmin wollte eben zu einer ausschweifenden Erzählung über ihre Jahre in Berlin ansetzen, als sie durch das Fenster beobachten konnte, wie eine verhärmt aussehende Frau mit einen Kinderwagen die Straße entlang kam...