Kurze Filme - Mediendidaktische Zugänge im Deutschunterricht

Kurze Filme - Mediendidaktische Zugänge im Deutschunterricht

von: , Stefan Krammer, Dieter Merlin

Studienverlag, 2022

ISBN: 9783706562904 , 146 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 20,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Kurze Filme - Mediendidaktische Zugänge im Deutschunterricht


 

Dieter Merlin

Close-Up auf den kurzen Film


Mediendidaktische Skizzen


Kurze Filme weisen in Bezug auf ihre ästhetische Form, ihre narratologischen Setzungen, ihre dramaturgischen Strategien und die von ihnen kommunizierten Themen eine kaum überschaubare Bandbreite auf – für mediendidaktische Belange zugleich Chance und Herausforderung. In diesem Beitrag sollen am Beispiel von sechs genretypischen Einzelfilmen und mit einem besonderen Fokus auf die Verwendung von Großaufnahmen (Close-Ups) Schnittmengen und Differenzen innerhalb dieser Vielfalt ausgelotet werden: Welche filmanalytischen Kompetenzen lassen sich auf möglichst interaktive Weise in der Auseinandersetzung mit diesen Filmen fördern? Wo sind in der audiovisuellen Struktur der Filme intentionale Felder erkennbar, die das Rezeptionsverhalten zu steuern versuchen? Wo sind Kontextualisierungen notwendig, um bestimmte Montagesequenzen besser verstehen zu können? Wo finden sich Leerstellen und Polyvalenzen, die Raum für subjektive Assoziationen und persönliche Involviertheit lassen?

Wenn man die Menge an »abendfüllenden« Spiel- und Dokumentarfilmen, deren genauere Betrachtung im schulischen Kontext sich lohnt, mit einem Wald vergleichen würde, den vollständig zu durchqueren im Laufe eines Lehrer:innen-Lebens nicht möglich wäre, dann käme die Menge der kurzen Filme1 einem Dschungel gleich. Bei der überwiegenden Anzahl von Langfilmen lassen sich – trotz der auch hier bestehenden Ausnahmen (vgl. u. a. Tröhler 2007) – relativ stabile Genrestrukturen identifizieren, die nicht zuletzt den Erwartungen der Zuschauer:innen geschuldet sind, deren Erfüllung auf Kinoplakaten, in (Online-)Fernsehzeitschriften oder von Streamingdiensten gezielt beworben wird.2 Bei kurzen Filmen liegt hingegen eine weitaus komplexere Situation vor: Kurze Filme sind, historisch betrachtet, das Experimentierlabor der »Siebten Kunst« (vgl. Kaczmarek 2021); Genre-Mischungen bzw. die Verschiebung von Genre-Grenzen sind daher nicht ungewöhnlich. Dies gilt von der Frühphase des analogen Films bis zu jüngsten Entwicklungen der digitalen Medienkultur.3

DIETER MERLIN siehe Seite 7.

Da es im hier vorliegenden Beitrag jedoch primär um mediendidaktische Belange geht, die den schulischen Deutschunterricht im Blick haben, nehme ich im Folgenden eine doppelte Komplexitätsreduktion vor: Zum einen sollen stilistische Merkmale kurzer Filme, die sich bei einer größeren Gruppe dieser Filme auf ähnliche Weise wiederfinden, anhand konkreter Filmbeispiele nachgewiesen werden. Auf diese Weise soll dem Risiko begegnet werden, vorschnell Generalisierungen vorzunehmen, die einzelne Filme dann nur unzureichend einlösen. Dies ist mit einem radikalen Selektionsprozess verbunden: Jeder Einzelfilm etabliert auch eine spezifische Konstellation in der Verwendung ästhetischer Mittel, die jeweils nur ihm selbst zukommt. Um dennoch eine gewisse Vielfalt zu spiegeln, seien für diesen Beitrag insgesamt sechs kurze Filme ausgewählt, von denen angenommen werden kann, dass sie sich zumindest annäherungsweise einem gängigen Genre zuordnen lassen. Dieses Vorgehen ist mit einer zweiten Einschränkung verbunden: Es bezieht neuere Social-Media-Formate nur partiell mit ein. »YouTube-Filme« zum Beispiel werden im Rahmen des hier verfolgten Ansatzes nicht als eigenständiges Filmgenre verstanden, da die Internet-Plattform YouTube für verschiedene »klassische« Filmgenres ein Publikationsforum bietet: kurze Spiel- und Dokumentarfilme, kurze Animationsfilme etc. Nicht Teil dieses Beitrags sind kurze und kürzeste Filme, die sich Genre-Zuordnungen prinzipiell verweigern, da sie zum Beispiel eine authentische Darstellung der Alltagsrealität suggerieren, zugleich jedoch in hohem Maße inszeniert sind und bisweilen in ihrer spezifischen Ästhetik stark divergieren – unabhängig davon, ob diese Filme via YouTube, Instagram, Snapchat, TikTok o. Ä. präsentiert werden.4

Der in Hinblick auf das Korpus an sechs Beispielfilmen vorgenommene Selektionsprozess erfolgte also nach einer (durchaus problematisierbaren) Genre-Zugehörigkeit. Diese soll in erster Linie Lehrpersonen, die im Deutschunterricht mit kurzen Filmen arbeiten möchten, dabei helfen, einen ersten Überblick zu gewinnen. Zu jedem Genre können dann sowohl von den Lehrer:innen als auch von den Schüler:innen weitere Beispielfilme gesucht werden.5 Die Genre-Klassifizierung erfolgte in Anlehnung an die Genre-Einteilung, die von der AG Kurzfilm6 in ihrer Empfehlungsliste für Zwecke der Filmbildung zu Grunde gelegt wurde: Im Auftrag der AG Kurzfilm wurden 2012 insgesamt 100 Kurzfilme von einem Expert:innen-Gremium aus Filmschaffenden sowie Medienpädagog:innen und -didaktiker:innen ausgewählt (vgl. AG Kurzfilm 2012, S. 4).7 Das Gremium benannte sieben »klassische« Filmgenres, denen die genannten 100 Filme zugeordnet wurden, allerdings mit dem relativierenden Hinweis, dass manche Kurzfilme auch in mehrere Genres gepasst hätten (vgl. ebd., S. 5). In der Liste der AG Kurzfilm finden sich schließlich 14 »Dokumentarfilme«, 16 »Spielfilme«, 19 »Animationsfilme«, 16 »Experimentalfilme«, 11 »Musikfilme«, 10 »Werbefilme« und 14 Beispielfilme für »Videokunst« (ebd.). Ich habe mich bei meiner limitierten Filmauswahl ebenfalls an diesen Genre-Kategorien orientiert, da sie eine erste Einteilung ermöglichen, die für schulische Belange nützlich ist – wohl wissend, dass die Grenzen zwischen diesen Genres fließend sind: Bei Filmen, die Merkmale mehrerer Genres aufweisen, sollte dies auch im schulischen Kontext explizit zum Thema gemacht werden. Um den kurzen Charakter der Filme stärker zu betonen, habe ich die Terminologie der AG Kurzfilm jedoch insofern modifiziert, als ich das Merkmal der »Kürze« bereits in die Genre-Benennungen integriert habe. Es wird daher in diesem Beitrag um jeweils ein Filmbeispiel aus den wie folgt bezeichneten Genres gehen:

Kurzspielfilm

Documentary Short

Animation Short

Musikvideo

Werbespot

Experimental Short

Das Genre »Videokunst« werde ich vernachlässigen, da es sich in der Regel auf Filme bezieht, die tendentiell eher keine narrative Dramaturgie aufweisen; Letztere erleichtert jedoch erfahrungsgemäß im Deutschunterricht den Zugang für viele Schüler:innen (die AG-Kurzfilm-Liste war hingegen bewusst fächerübergreifend konzipiert, d. h., dort wurde auch der Kunst-Unterricht berücksichtigt). Auch das Genre »Experimentalfilm« entfernt sich hin und wieder relativ weit von einem narrativen Ansatz – allerdings bleibt es diesem vielfach durch eine gezielte Konterkarierung indirekt verhaftet (ein entsprechendes Beispiel ist Teil des ausgewählten Filmkorpus).

1. Beispielfilme


Zu jedem der sechs Filmgenres wurde jeweils ein Beispielfilm ausgewählt. In der folgenden Übersicht sind alle sechs Beispielfilme aufgeführt, mitsamt einer Zuordnung zu der Jahrgangsstufe, ab der ein Einsatz der Filme im Unterricht meiner Einschätzung nach zu empfehlen wäre:

Die Reihenfolge der Filmtitel entspricht derjenigen in der Liste der Filmgenres. Damit die Wirkung bestimmter, in diesen Filmen verwendeter ästhetischer Gestaltungsmittel im Folgenden besser eingeschätzt werden kann, seien zu jedem Beispielfilm knapp die Grundzüge der Filmhandlung skizziert, jeweils ergänzt um einige Kontext-Hinweise.

Der österreichische Kurzspielfilm Rote Flecken (2013) der Kärntner Regisseurin Magdalena Lauritsch erzählt eine Geschwister-Geschichte: Tommi (Thomas Otrok) entwendet das Jagdgewehr seines Vaters, um im Wald heimlich schießen zu üben; sein Bruder Simon (Emilio Bachmann) begleitet ihn. Tommi spielt gegenüber seinem kleinen Bruder den Wissenden, doch die Sache geht schief: Sie treffen aus Versehen den Hund eines Nachbarn. Tommi versucht, seinen Bruder dazu zu bringen, dem Hund den Gnadenschuss zu geben, doch dieser weigert sich (zunächst). Bereits zu Beginn des Films gibt es Unstimmigkeiten zwischen den beiden Geschwistern; der zentrale Konflikt baut sich kontinuierlich auf – und dennoch kann die plötzliche Eskalation der Gewalt erschreckend wirken. Daher sei der Film erst ab Jahrgangsstufe 9 empfohlen. Aufgrund der moralischen Fragen, die sich mit den erzählten Ereignissen verknüpfen lassen, eignet er sich auch für eine fächerübergreifende Kooperation mit dem Ethik-, Philosophie- oder Religionsunterricht. Der Film gewann 2015 den österreichischen Filmpreis in der Sparte »Bester Kurzfilm«.

Der norwegische Documentary Short Thea (2016) bietet ein Kontrastprogramm zu Rote Flecken: Darin geht es um ein 12-jähriges Mädchen namens Thea, das sowohl mit seinen beiden Brüdern als auch seinen Eltern ein sehr herzliches Verhältnis hat – und sich darüber hinaus auch im Kreis seiner Freundinnen wohlfühlt. Thea leidet jedoch an schwerer Epilepsie: Ihr Leben ist immer wieder durch langanhaltende Anfälle beeinträchtigt ; manchmal wird sie deshalb mit einem Rettungshubschrauber in eine Spezialklinik...