Das Minarett in den Bergen - Porträt eines unvermuteten Europas

Das Minarett in den Bergen - Porträt eines unvermuteten Europas

von: Tharik Hussain

HarperCollins, 2023

ISBN: 9783749905591 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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Das Minarett in den Bergen - Porträt eines unvermuteten Europas


 

EINLEITUNG

INNIGE TOLERANZ

PALAMARTSA, BULGARIEN

Bleistiftdünne schneeweiße Minarette, gekrönt von spitz zulaufenden Kegeln, ragten uns entgegen, als wir durch die weitläufige Ebene von Nordbulgarien fuhren, nicht weit von der Grenze zu Rumänien. Neben jedem der Türme war die unverwechselbare Kuppel einer kleinen Moschee auszumachen.

Einige von ihnen waren verfallen. Andere verschlossen. Eine oder zwei jedoch verfügten über einen kleinen Friedhof, mit gepflegten Rasenflächen zwischen den uralten turbanförmigen Grabsteinen. Als wir anhielten, um durchs Fenster einen Blick in die Moscheen zu werfen, sahen wir Stapel von farbenfrohen Gebetsteppichen an den Wänden, unter abgenutzten Tespih (Gebetsketten), die an kleinen Haken hingen. Irgendwann wurde mir klar: Das hier waren lebendige muslimische Dörfer mit langer Geschichte. Aber wie kamen sie bloß hierher?

Wir waren auf dem Weg zu einem Ökobauernhof im abgelegenen Dorf Palamartsa, das sich in die Hügellandschaft im Nordosten Bulgariens schmiegt. Eine Woche lang war ich zusammen mit meinen beiden Töchtern Amani und Anaiya in Transsilvanien Dracula auf der Spur gewesen, und nachdem wir ihre Mutter Tamara am Flughafen in Bukarest abgeholt hatten, war unsere Familie jetzt wieder vereint. Unsere weiteren Pläne bestanden vor allem darin, den Rest unseres Sommerurlaubs mit Nichtstun zu verbringen.

Von dem Bauernhof hatte ich durch einen Artikel im Guardian erfahren, der die Eigentümer als Verfechter des »Slow Living«-Konzepts beschrieb, und genau deshalb waren wir hier: Wir wollten es für ein paar Tage ganz ruhig angehen lassen. In London hetzten wir alle ständig einem straffen Zeitplan hinterher und waren jeden Tag damit beschäftigt, unsere Arbeit, die Nachmittagsbeschäftigungen der Kinder und deren Betreuung zu jonglieren. Wir mussten immerzu mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft halten und versuchten ständig, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen – unser Leben hatte sich zum Klischee der modernen Gesellschaft entwickelt.

Die Woche auf dem Bauernhof in Palamartsa sollte das genaue Gegenteil sein: Wir hatten vor, tagelang in Hängematten zu lungern, zu lesen und im Garten unser eigenes Biogemüse zu ernten. Doch nun hatte die unerwartete Entdeckung der muslimischen Dörfer mir einen Ball zugeworfen, mit dem ich sehr gern jonglieren wollte.

Über Bulgarien wusste ich vor dieser Reise eigentlich nur, dass das Land einen der talentiertesten Fußballspieler aller Zeiten hervorgebracht hatte: Hristo Stoichkov (nach anderer Umschrift: Christo Stoitschkow). Ich erinnere mich bis heute, wie ich als fußballverrückter Jugendlicher die Weltmeisterschaft 1994 in den USA verfolgte und völlig gebannt war von dem linksfüßigen Genie, das aussah wie ein Knastbruder und Tore einfach zum Spaß zu schießen schien. Stoitschkows Bulgaren warfen in einer traumhaften Siegesserie Mannschaften wie Mexiko und Deutschland aus dem Turnier und kamen bis ins Halbfinale, und Stoitschkow wurde WM-Torschützenkönig. Am Ende reckten die Brasilianer den Pokal in die Höhe, aber Stoitschkow und seine tapfere kleine Nation, die den großen Mannschaften in jenem Jahr einen echten Schrecken einjagten, blieben allen in Erinnerung.

Das war also alles, was ich über Bulgarien wusste: Es war das Heimatland von Stoitschkow, früher kommunistisch gewesen, und die Nationalflagge sah aus wie die von Italien auf die Seite gedreht und etwas anderer Farbenfolge. Ich hatte keinerlei Anlass zu der Annahme, Bulgaren könnten Muslime sein.

Als der englische Schriftsteller Patrick Leigh Fermor in den 1930er-Jahren als junger Mann auf seiner Bildungsreise von Hoek van Holland nach Istanbul durch Zentralbulgarien wanderte, durchquerte er Landstriche, die als Teil des Osmanischen Reiches seit fast 500 Jahren muslimisch waren – ein Erbe, das Fermor deutlich ins Auge sprang. Er beschreibt, wie er »überall Türken mit Turban und Fez« sah, deren Frauen Kleidung trugen, die nur die Augenpartie frei ließ. Er erinnert sich daran, wie er an einer Vielzahl von Moscheen vorbeilief und einmal sogar die Nacht in den Ruinen eines Gotteshauses verbrachte. Vor einer weiteren traf er auf ein paar Einheimische, die im Schneidersitz auf dem Boden saßen und entweder Kaffee aus winzigen Tässchen schlürften oder eine nargileh rauchten, während andere am Brunnen standen und sich, wie vorgeschrieben, vor dem Ruf zum Gebet wuschen. Diese Szene hätte sich ohne Weiteres in Fes, Tunis oder Algier abspielen können, doch für den jungen Fermor unterschieden sich die Muslime nicht groß von ihren andersgläubigen Landsleuten.

Mittlerweile war fast ein Jahrhundert vergangen, seit er diese Worte geschrieben hatte, und die Zeiten, in denen bedeutende Teile Osteuropas als muslimisch galten, waren vorbei. Ähnlich wie die Anwesenheit der Mauren in Spanien, Portugal und Italien findet dieser Aspekt der Geschichte im historischen Narrativ dieser Regionen kaum noch Berücksichtigung, weder in der offiziellen Geschichtsschreibung noch in der populären Auffassung. Daran ist zum Teil der lange währende atheistische Kommunismus schuld, der auf Fermor und seine heute verblassten Fußstapfen folgte. Heute gehen weite Teile der Welt einfach davon aus, dass Südosteuropa ein säkularer, ungastlicher, grauer Ort ist, zerrissen von ethnischen Konflikten, obwohl dieses Bild die sechs Jahrhunderte umspannende muslimische Geschichte der Region und ihre große ursprüngliche muslimische Bevölkerung komplett ausblendet. Kein Wunder, dass die muslimischen Dörfer in Bulgarien samt ihren kleinen, weißen Moscheen so eine Überraschung für uns waren!

Für uns als muslimische Familie, die zu einer Zeit in Europa lebt, in der Muslimen das Bild vermittelt wird, sie seien gesellschaftliche Außenseiter, stellten diese Dörfer eine verlockende Gelegenheit dar: Sie boten uns die Chance, eine einheimische Version unserer Selbst zu treffen.

Ich kam in Bangladesch zur Welt, bevor meine Familie in den frühen 1980ern ins Londoner East End zog, zu einer Zeit, in der der Rassismus dort seinen Höhepunkt erreichte. »Pakis klatschen« war ein beliebter Zeitvertreib, auf Etiketten von Marmeladengläsern war die stereotype schwarze Figur »Golliwog« zu sehen, und die rechtsextreme British National Party hatte einen Infostand in der Brick Lane – mitten im Herzen der frisch aus Bangladesch eingetroffenen Immigrantengemeinde.

Mir wurde von Anfang an deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht hierhergehörte. Ich war ein verwirrtes und verängstigtes Kind, das miterlebte, wie ein rassistischer Schläger meinen Vater vor unserer Tür attackierte; ich hörte, wie die Polizei beharrlich wiederholte, die Skinheads nicht ausfindig machen zu können, die meinem Bruder eine Platzwunde am Kopf verpasst hatten; ich vernahm den ängstlichen Aufschrei meiner Mutter, wenn wieder jemand einen Böller durch unseren Briefschlitz steckte, und sah voller Entsetzen, wie ein halbstarker Neonazi meinem Freund die Wange aufschlitzte, ehe sein Fascho-Kumpel mir nachsetzte.

Ich wuchs mit dem Gefühl auf, dass weite Teile der Gesellschaft mich hassten, einfach weil ich war, wer ich war, und mich ohne Weiteres umgebracht hätten, nur um das zu beweisen. Das war schwer zu verarbeiten für ein Kind.

Daher fühlte es sich auf seltsame Weise vertraut an, als der Rassismus nach der Jahrtausendwende zwar nachließ – oder zumindest nicht mehr so offen ausgelebt wurde –, dafür aber ein neues Vorurteil aufkam. Während man mir zuvor immer gesagt hatte, ich gehöre nicht hierher, weil ich ein »Paki« sei, hieß es nun, ich gehöre nicht hierher, weil ich Muslim sei. Und das war nicht nur in England so; es machte den Eindruck, als würde die gesamte westliche Welt mich und »meinesgleichen« am liebsten vertreiben. Sowohl gebildete Akademiker wie Bernard Lewis und Samuel P. Huntington als auch Hass schürende gefeierte Publizistinnen wie Katie Hopkins und Melanie Phillips stießen laut und deutlich ins gleiche Horn: Muslime seien keine Europäer.

Ich hatte mittlerweile selbst Kinder, nachdem ich meine Jugendliebe geheiratet hatte. Unsere Familie war muslimisch mit multiethnischem, multikulturellem und multireligiösem Hintergrund – mit christlichen, jüdischen und muslimischen Wurzeln. Irgendwie musste ich diesen Hass und diese Ablehnung, die, wie ich wusste, auch meinen Kindern entgegenschlagen würden, verstehen lernen.

Deshalb waren die Muslime vom Balkan von so großer Bedeutung für mich. Sie waren nicht das Ergebnis von Migrationsbewegungen, nicht zum Islam konvertiert und galten nicht als »Fremde« in Europa. Sie waren Muslime, deren Identität in und durch Europa entstanden war. Sie waren fest in der lokalen Gemeinschaft verwurzelt. Diese Menschen waren genauso Europäer, wie sie Muslime waren.

Ich wollte wissen, ob sie die gleichen inneren Konflikte durchlitten wie wir. Machten sie sich Gedanken darüber, ob sie dazugehörten? Wie gelang es ihnen, gleichzeitig europäisch und muslimisch zu sein? Fühlten sie sich ebenso ausgegrenzt wie viele von uns? Waren sie in irgendeiner Weise wie wir?

Gebannt unternahmen wir in jenem Sommer 2014 mehrere Tagesausflüge in muslimische Dörfer und Städte rund um Palamartsa. Unser Lieblingsort war Schumen, eine kleine bulgarische Stadt wie viele andere auch – graue, hoch aufragende Mietshäuser unterhalb eines protzigen kommunistischen Denkmals, das in seinem »Macho-Stil« alles überragte. Am Ostrand von Schumen, nahe der historischen Altstadt und umgeben von sattgrünen Hügeln, befindet sich die wunderschöne...