Kursbuch 212 - Jetzt wird's knapp

Kursbuch 212 - Jetzt wird's knapp

von: Armin Nassehi, Peter Felixberger, Dr. Sibylle Anderl

Kursbuch Kulturstiftung gGmbH, 2022

ISBN: 9783961962815 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Kursbuch 212 - Jetzt wird's knapp


 

Marc Wittmann
Zeit und Existenz
Wenn die Zeit knapp wird

Spätestens wenn der Mensch die Halbzeit seines Lebens erreicht hat, wird ihm die Zeitlichkeit und damit seine Endlichkeit bewusst. Die Midlife Crisis kann donnernd als Zäsur über uns hereinbrechen, vielleicht am 50. Geburtstag. Das Gefühl einer zunehmenden Zeitknappheit ob der ins Bewusstsein rückenden Endlichkeit kann sich aber auch langsam einschleichen. Die Hochkulturaffinen unter uns kennen die folgende Stelle. Die Zeilen von Hugo von Hofmannsthal, der die Marschallin in der Oper von Richard Strauss ihre erlebte Zeitknappheit mit den Worten beginnen lässt: »Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding«, zeugen von Bewusstsein der verrinnenden Zeit. Die Marschallin, die Angst hat, zu alt für ihren Geliebten zu sein, spürt die Zeit rieseln und steht in ihrer Verzweiflung nachts auf, um die Uhren anzuhalten.1 Zeit wird ganz existenziell knapp. Könnten wir nur die Lebenszeit anhalten, so wie die Uhren stehen bleiben, wenn man sie anhält.

Warum die Lebenszeit so schnell vergeht

Unsere eigenen empirischen Untersuchungen zum Zeitempfinden über die Lebensalter hat die gängige Vorstellung darüber bestätigt, wie sich der Zeitverlauf über die Lebenszeit hinweg anfühlt und verändert.2 Die befragten Menschen in einer Altersspanne zwischen 14 und 94 Jahren gaben mit zunehmendem Alter an, dass die gefühlte Zeit immer schneller vergeht. Insbesondere bei der Frage, wie schnell die letzten zehn Jahre vergangen sind, lässt sich dies im Mittel der gegebenen Antworten nachweisen. Vom Teenageralter bis zum ungefähren Eintritt des Rentenalters vergehen die Dekaden subjektiv immer schneller, es besteht ein positiver linearer Zusammenhang zwischen Alter und Zeitempfinden. Ab einem Alter von ungefähr 60 Jahren wird ein Plateau erreicht, die Zeit verläuft dann gleichbleibend schnell.

Woran liegt es, dass sich der gefühlte Zeitverlauf über die Lebensalter verändert? Die Routine und damit verbunden die Gedächtnisinhalte sind offenbar der Schlüssel zur Antwort. Die empirische Befundlage zum Verhältnis von Zeit und Gedächtnis ist eindeutig: Je mehr wechselnde und interessante Erfahrungen wir haben, desto länger fühlt sich die subjektive Dauer im Rückblick an.3 Wir alle kennen diesen Effekt: Ein Wochenende, das wir zu Hause in gewohnter Routine verbringen, ist vergleichsweise schnell vorbeigegangen. Im Gegensatz dazu dauert ein Wochenende an unbekanntem Ort und mit Freunden erkundet subjektiv viel länger. Die Vielfalt und Emotionalität der Erinnerungen verlängert die subjektive Zeit. Der Umstand, dass wir in freudvollem Kontext offen für neue Erfahrungen sind, stärkt in jedem Moment die Aufmerksamkeit auf das Erlebte und fördert so die Gedächtnisbildung. Wenn wir am Montagmorgen zur Arbeit zurückkehren, haben wir den Eindruck eines wirklich langen Wochenendes.

Diese Erklärung mithilfe des Gedächtniseffektes lässt sich im Prinzip auch auf längere Lebensabschnitte anwenden. Aus einer Entwicklungsperspektive betrachtet, lernen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene viele neue Dinge zum ersten Mal. Jedes Jahr eines Kindes ist sowohl biologisch als auch psychologisch ein völlig neues Jahr. Irgendwann verlassen wir die Schule und die Eltern. Wir ziehen an einen anderen Ort, vielleicht ins Ausland. Wir finden einen Partner und einen Beruf mit langfristiger Perspektive, Kinder werden geboren. Das ganze Leben wird umgekrempelt. Erinnerungen von tiefer Bedeutung sammeln sich an. Dann aber (still und leise) schleicht sich im Laufe der Jahre die Routine ein. Selbst wenn wir alle paar Jahre den Arbeitsplatz wechseln, unseren Urlaub an neuen Orten verbringen, kommt diese Neuartigkeit der Erfahrung, die wir in unserer Jugend und im jungen Erwachsenenalter hatten, nicht mehr zurück. Der erste Kuss, das erste Mal Ferien ohne die Eltern, das erste selbst verdiente Geld. Diese Erinnerungen haben einen besonderen Stellenwert in unserem Leben. Das heißt, wenn wir älter werden, schleichen sich Wiederholungen des Immergleichen ein, Ereignisse von Bedeutung werden weniger und müssen nicht im Gedächtnis gespeichert werden. Infolgedessen beschleunigt sich die subjektive Zeit mit zunehmendem Lebensalter.

Und dann kommen die Kinder. Für Erwachsene ist die Geburt eines Kindes ein gewaltiges Lebensereignis, welches sich ins Gedächtnis eingräbt. Aber auch dann wird die Routine wieder überhandnehmen. Die zunehmende Menge an sich wiederholenden Tätigkeiten, um den Alltag mit Kindern zu bewältigen und ihnen Struktur und ein Gefühl der Sicherheit zu geben, wird sich als Routineeffekt auf das autobiografische Gedächtnis der Eltern auswirken. Vergeht die Zeit für Eltern schneller als für Erwachsene ohne Kinder? Das wollten wir in einer weiteren Analyse der oben genannten Studiendaten herausfinden. Tatsächlich zeigten sich signifikante Unterschiede im gefühlten Zeitverlauf der letzten zehn Jahre zwischen Eltern und Erwachsenen, die keine Kinder haben: 4 Für Erwachsene mit Kindern vergeht die Zeit subjektiv schneller. Es wurde sogar eine kleine positive Korrelation zwischen der Anzahl der Kinder und des wahrgenommenen Zeitverlaufs festgestellt: Je mehr Kinder, desto schneller vergeht die Zeit.

Beim allgemeinen Lamento über das schnelle Vergehen der Zeit muss man berücksichtigen, dass es sich um einen Mittelwert handelt. Dieser statistische Kennwert berücksichtigt nicht die Varianz der Antworten oder die Dynamik der Wahrnehmung aufgrund der Veränderung von Lebenssituationen. Die Coronapandemie hat dabei einen unwillkommenen Anlass zur Forschung der Veränderlichkeit des Zeitgefühls geliefert. Psychologen in mehreren Ländern initiierten nach Beginn der Pandemie rasch Onlinestudien und kamen zu recht ähnlichen Ergebnissen: 5 Nur relativ wenige Menschen gaben an, dass die Zeit genauso schnell wie vor der Pandemie verging. Ein großer Anteil berichtete von einer Verlangsamung der Zeit des letzten Tages und der letzten Woche. Ein anderer Teil bemerkte aber eine Beschleunigung derselben Zeiträume.

Warum erlebten die Menschen die Zeit als entweder langsamer oder schneller vergehend? Während der über verschiedene Länder hinweg mehr oder weniger strengen Lockdowns berichteten diejenigen über eine relative Verlangsamung, die verstärkt Langeweile, eine geringere Zufriedenheit mit der sozialen Situation und weniger berufliche Beschäftigung hatten. Die für diese Menschen emotional aufgeladene Zeit mag sich metaphorisch gesehen ins Gedächtnis eingebrannt haben, was retrospektiv zur Zeitstreckung geführt haben mag. Personen, die während des Lockdowns weniger Stress, eine größere Zufriedenheit mit ihrer sozialen Situation und eine höhere Aufgabenbelastung erlebten, gaben an, die Zeit verginge schneller. Das ist wieder der Effekt der Routine. Auf Englisch hat sich die Bezeichnung Blursday eingebürgert, um diesen psychologischen Coronaeffekt zu umschreiben. Sunday und Monday wurden während des Lockdowns ununterscheidbar, sie verschwammen (to blur) zu einem Gedächtnisbrei, zum Blursday. Im Mittel wurde in einer Studie an der Universität Regensburg auch der Zeitraum des letzten Jahres, der sich über die Pandemie erstreckte, als langsamer als sonst vergehend eingeschätzt.6 Das könnte wieder ein Gedächtniseffekt sein, weil während dieser Zeit so viel Ungewöhnliches passiert war. Zuerst die Nachrichten aus China und Bergamo, dann die Zunahme der Fälle im eigenen Land, der abrupte Lockdown über Monate, der eine Situation schaffte, die für die meisten Menschen nie da gewesen war. Unvorstellbar noch davor: In den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein und nur mit Maske die äußersten Notwendigkeiten erledigen. Die ersten Lockerungen, die nächsten Verschärfungen, kein Urlaub am Sandstrand, eine grundsätzlich existenziell eingefärbte Stimmung des Lebens, hervorgerufen durch ein unsichtbares Virus. Auch hier zeigte sich neben der im Mittel verlangsamten subjektiven Lebenszeit ein Zusammenhang zwischen Emotionen und Zeit. Je unzufriedener die Menschen mit der sozialen Situation waren, je mehr Langeweile sie verspürten, desto langsamer verging das letzte Jahr.

Zeit und körperliches Selbst

Die Zeit ist nicht nur »ein sonderbar Ding«, sondern auch ein gemeines Ding. Wobei: Mit Ludwig Wittgenstein wissen wir, dass das Wort »Zeit« durch die Grammatik, ihre Substantivierung, zu Gedanken- und Sprachverwirrungen führen kann.7 Die Zeit ist eben kein Ding. Wir haben keinen objektiven Gegenstand in der Welt, der sich durch einen Zeitsinn anhand eines Organs messen ließe, so wie wir Augen und Ohren haben, um Farben, Formen und Geräusche wahrzunehmen. Und dennoch nehmen wir die Zeit wahr. Mein Forschungsfeld der Zeitwahrnehmung ist real, nur bezieht es sich nicht auf einen Gegenstand. Dass ich nicht nichts untersuche, zeigt sich spätestens dann deutlich, wen man unverhofft warten muss und Unruhe und Langeweile entstehen. Dann erlebt man die Zeit deutlich. Sie dehnt sich. Das ist schließlich das Gemeine: Die Lebenszeit vergeht uns zu schnell, wenn etwa Weihnachten oder die jährliche Steuererklärung wieder einmal kurz bevorstehen. Auf kleinerer Zeitskala vergnügen wir uns in einem anregenden Gespräch oder wir sehen einen kurzweiligen Film. Annehmlichkeiten wie diese sind für unseren Geschmack viel zu schnell vorüber. In jeglicher aktiven Tätigkeit entsteht Flow in der Balance von eigenen Fähigkeiten und Anforderungen, da man sich in einem Zustand optimaler Beanspruchung befindet.8 Es...